Lilys Versprechen - Wie ich Auschwitz überlebte und die Kraft zum Leben fand. Eine wahre Geschichte

Lilys Versprechen - Wie ich Auschwitz überlebte und die Kraft zum Leben fand. Eine wahre Geschichte

von: Lily Ebert

mvg Verlag, 2022

ISBN: 9783961217922 , 320 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 12,99 EUR

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Lilys Versprechen - Wie ich Auschwitz überlebte und die Kraft zum Leben fand. Eine wahre Geschichte


 

DOV


3. Juli 2020


North London


»Dov, lass uns was machen!«

Meine Urgroßmutter ist unruhig. Mit ihren 96 Jahren ist Lily es gewohnt, ihre Tage in Schulen zu verbringen, mit Kindern über ihre Erlebnisse in Auschwitz zu sprechen oder auf öffentlichen Veranstaltungen Vorträge zu halten. Sie hasst es, allein in ihrer Wohnung festzusitzen.

Der Lockdown aufgrund der Pandemie wurde endlich gelockert – zumindest vorläufig. Nachdem wir uns in den letzten Wochen immer nur durch ein Fenster unterhalten haben, sie hinter der Scheibe, wir im Garten, kann meine Familie nun endlich wieder den Schabbat mit Lily verbringen, wie wir es immer getan haben.

»Dov, lass uns was machen!«, sagt Lily.

Es ist Freitagabend, und wir sind um den Tisch versammelt. Wir sind alle so froh, wieder zusammen sein zu können, zünden gemeinsam die Schabbatkerzen an und segnen das Brot. Es ist ein ganz besonderer Abend und Lily ist voller Energie.

Aber ich merke, wie sehr sie ihr altes Leben vermisst. Sie hat sich immer darauf gefreut, neue Menschen kennenzulernen. Als Überlebende nimmt Lily ihre Rolle in der Holocaust-Erziehung sehr ernst. Es ist nicht leicht, aber sie ist fest entschlossen, etwas zu bewirken. Sie weiß, wie viel es den Menschen bedeutet, ihre Geschichte direkt von ihr zu hören, wie eine persönliche Begegnung mit ihr die Sicht auf die Vergangenheit und auch auf die Zukunft verändern kann.

»Mach dir keine Sorgen, Safta!« Wir alle nennen sie Safta, denn Mum hat sie als Kind immer so genannt. Das ist hebräisch für Großmutter. »Ich lass mir etwas einfallen.«

Was könnte ich tun?

Schulen, Museen und Universitäten haben zwar wieder geöffnet, aber niemand weiß, wann öffentliche Veranstaltungen wieder stattfinden können. Es könnte noch Jahre dauern. Wie viele Holocaustüberlebende werden bis dahin noch am Leben sein? Die Coronakrise hat mir eine sehr schmerzhafte Wahrheit vor Augen geführt: So zäh sie auch ist, so unsterblich sie auch wirken mag, sosehr ich sie auch liebhabe, meine Urgroßmutter wird nicht ewig leben.

Lily ist unglaublich abenteuerlustig und stets neugierig. Vor ein paar Jahren saß sie auf einem Sofa mitten im Bahnhof Liverpool Street und lud Pendler ein, sich zu ihr zu setzen, um mit ihr über den Holocaust zu sprechen. Letztes Jahr haben wir gemeinsam einen Twitter-Feed gestartet. Ich habe ein paar Mal über Lilys Vorträge zum Holocaust-Gedenktag im Januar getwittert.

Jetzt denke ich ernsthafter darüber nach, die sozialen Medien zu nutzen, um Safta und ihre Geschichte einem neuen Publikum vorzustellen. Ich habe so viel von ihr gelernt. Jeder, der sie kennenlernt, bewundert sie. Und wenn es jemals eine wichtige Zeit gab, ihre Botschaft der Toleranz zu verbreiten, dann ist es wohl jetzt.

»Vielleicht können wir einen weiteren Tweet absetzen?«, schlage ich vor.

»Oder einen weiteren Schulbesuch machen?«, antwortet sie eifrig.

Vor zwei Wochen habe ich ihren ersten Zoom-Auftritt organisiert. Lily hat meinem Geschichtslehrer ihre Erlebnisse geschildert und seine Fragen sorgfältig beantwortet. Sie hatte vorher noch nie etwas von Zoom gehört, aber sie hat es wie ein Profi gemacht. Ich war so stolz auf sie. Ich habe Kontakt zu einem Journalisten von der Jewish News aufgenommen. Wie wäre es mit einem Artikel darüber, wie Überlebende jetzt die Lektion des Holocaust online unterrichten?

»Das ist nicht so gut wie in der persönlichen Begegnung – ich möchte mein Publikum sehen«, hat Lily erwidert. »Aber meine Generation war schon immer daran gewöhnt, sich an neue Situationen anzupassen. Wenn man etwas tun muss, dann tut man es. Es ist immer gut, das Beste aus dem zu machen, was man im Leben hat.«

Ich habe einen Tweet mit dem Link zu ihrem Interview gepostet. Er bekam 65 Likes. Nicht schlecht, dachten wir alle.

Aber was jetzt? Für den Rest des Schabbats befrage ich sie zu ihrer Lebensgeschichte. Meine Mutter Nina fängt auch an, Fragen zu stellen. Genau wie ich hat sie sich schon immer sehr für unsere Familiengeschichte interessiert. Wir sind beide mit dem Wissen aufgewachsen, dass Safta eine Überlebende ist; wir wissen, warum sie immer ein Stück Brot neben sich liegen hat und warum sie nicht mitansehen kann, wie Essen verschwendet wird. In ihrer Gegenwart haben wir nie mit Spielzeugpistolen gespielt oder uns geprügelt. Wir haben sie oft in der Öffentlichkeit sprechen hören, und doch gibt es vieles, was ich immer noch nicht über sie weiß.

Was genau geschah mit Lily und ihren Schwestern nach Auschwitz? Wie hat sie sich gefühlt, als der Krieg zu Ende ging? Warum ist sie nicht nach Hause, nach Ungarn zurückgegangen?

»Wie war das, Safta?«, frage ich. »Wie hast du die Kraft gefunden, weiterzumachen?«

»Man muss weitermachen. Man muss immer weitermachen.«

Früher hatte Lily die Regel aufgestellt, am Schabbat nie über den Holocaust zu sprechen. An diesem Tag sollte man nicht über traurige Dinge nachdenken. Ich erinnere mich, dass ich entsetzt und verlegen war, als einer meiner Freunde sie an einem Samstag nach der Synagoge fragte, ob er ihre Tätowierung sehen könne. Er war in der sechsten Klasse, ein Jahrgang über mir, und in der Schule hatten sie gerade angefangen, über den Holocaust zu sprechen. Er wollte mehr wissen und hatte viele Fragen. So sah auch ich zum ersten Mal Lilys Tätowierung richtig. Es war ein schockierender Moment, den ich nie vergessen werde. Und wir haben jahrelang nicht mehr darüber gesprochen.

Aber in letzter Zeit scheint sie ihre Meinung über die Art von Gesprächen, die wir am Schabbat führen können, geändert zu haben. Ich glaube, wir alle haben plötzlich ein neues Gefühl der Dringlichkeit gespürt. Neue Geschichten, die wir noch nie gehört haben, sprudeln aus Safta heraus. Und je mehr sie erzählt, desto mehr will ich wissen.

»Wie war es? Wie hast du dich gefühlt?«

»Wenn man nicht dabei war, kann man es nicht wirklich verstehen.«

Aber ich will es versuchen. Um ehrlich zu sein, habe ich mich bisher nicht getraut, zu viele Fragen zu stellen. Jedes Mal, wenn sie über die Vergangenheit spricht, muss sie sie wieder durchleben. Ich will ihr nicht wehtun. Aber gleichzeitig möchte ich wirklich genau wissen, was ihr passiert ist. Ich möchte mir alles ganz genau vor Augen führen. Ich bin 16. Lilys kleine Schwester Piri hat ein Nazi-Konzentrationslager und Zwangsarbeit überlebt, bevor sie 16 wurde.

Ich habe schon viel über Auschwitz nachgedacht. Ende des Jahres soll ich eine Klassenfahrt dorthin machen. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass das jetzt noch stattfindet? Lily wollte uns begleiten.

Alles ist in der Schwebe. Alles ist so unberechenbar. Das Leben fühlt sich in diesen Tagen viel zerbrechlicher an als sonst.

Ich will nicht, dass diese Geschichten verschwinden. Ich möchte einen Weg finden, all das, was Lily uns gegeben hat, für immer zu bewahren.

Am nächsten Abend, am Ende des Schabbats, bringen meine Mutter und ich Lily zurück in ihre Wohnung.

»Warum kommt ihr nicht rein?«, fragt sie. »Ich habe ein paar Sachen, die ich dir zeigen möchte, Dov.«

»Hoffentlich kannst du sie auch finden, Safta«, scherzt Mum.

Saftas Wohnung ist übervoll mit irgendwelchem Kram. Ich glaube nicht, dass sie jemals etwas weggeworfen hat. Nur sie weiß, was alles da ist und wo es sich befindet.

Ich warte, während sie in ihrem Schrank kramt. Als sie sich umdreht, strahlt sie.

»Schau dir das an!«

Stolz hält sie ein Fußballtrikot hoch. Es ist königsblau mit gelben Streifen. Ich kann die Mannschaft aber nicht erkennen.

»Wow!«, versuche ich interessiert zu klingen.

»Das ist Maccabi, aus Tel Aviv. Sie haben es mir geschenkt, als ich hingefahren bin, um meine Geschichte zu erzählen. In welchem Jahr war das? Egal. Schau – es ist signiert!«

»Toll!« Und dann entdecke ich den leuchtend orangefarbenen Einband eines dicken kleinen Albums hinter ihr im Schrank.

»Safta, was ist denn das? Dieses Album da. Darf ich es mir ansehen?«

Wir setzen uns nebeneinander und fangen an, darin zu blättern. Die Seiten sind aus Plastik, wie durchsichtige Brieftaschen, und jede einzelne ist mit winzigen Schwarz-Weiß-Fotos gefüllt. Einige davon sind eher braun-weiß. Viele haben diese lustigen weißen gewellten Ränder.

Ich glaube nicht, dass ich jemals zuvor Fotos von Lilys Familie gesehen habe, zumindest keine aus der Zeit vor dem Krieg. Die ersten Bilder wirken sehr förmlich. Bis auf eines, das leicht verschwommen ist: Drei kleine Kinder stehen in einer Reihe in einem Garten, sie schauen feierlich und ernst und halten sich an den Händen.

»Das bin ich. Das ist mein Bruder Imi. Das ist René. Ich war die Älteste.«

»Ich weiß, Safta! Du bist immer noch die Älteste!«

Ein anderes Foto von später, kurz vor der Deportation, zeigt Lily mit ihrem Bruder und allen drei Schwestern. Die Mädchen sind gleich gekleidet, außer Lily, und sie haben große Schleifen im Haar. Moment! Müsste da nicht noch ein Bruder stehen?

Lily schaut mich traurig an. Sie antwortet erst nach einer Pause, nachdem sie kurz den goldenen Anhänger, den sie immer trägt, berührt hat.

»Bela hat seine Thorastudien so ernst genommen. Er wollte an diesem Tag nicht den Cheder verpassen.«

Da sind ihre Eltern, die mir fremd und zugleich vertraut vorkommen. Ihre Mutter hieß Nina, genau wie meine Mutter. Sie hat ein schüchternes, leicht schiefes Lächeln. Und da ist ihr Vater mit Mantel und Hut. Ahron. Oh, wie mein Großonkel Roni! Da ist ein weißbärtiger Rabbi in einem langen Mantel. Und dann taucht ein verblasstes Sepia-Foto von einem Mann mit Schläfenlocken auf. Er sieht sehr streng...