Der Seidenspinner - Ein Fall für Cormoran Strike

von: Robert Galbraith

Blanvalet, 2014

ISBN: 9783641145958 , 688 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 11,99 EUR

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Der Seidenspinner - Ein Fall für Cormoran Strike


 

2

Wie lange dauert das Duell? Ich kann nicht bleiben

Und werd es nicht! Ich bin ein viel gefragter Mann.

FRANCIS BEAUMONT UND PHILIP MASSINGER,
DER KLEINE FRANZÖSISCHE ANWALT

Die U-Bahn war bereits ziemlich voll: schlaffe, blasse, verkniffene, resignierte Montagmorgengesichter. Strike ergatterte einen freien Sitz gegenüber einer Blondine mit verquollenen Augen, deren Kopf ständig zur Seite kippte. Immer wieder schreckte sie aus dem Schlaf, setzte sich gerade auf und versuchte in der Befürchtung, ihre Haltestelle verpasst zu haben, die vorbeihuschenden Schilder auf den Bahnsteigen zu erfassen.

Der Zug ratterte und klapperte, während er Strike zu der schlecht isolierten, kargen Zweieinhalbzimmer-Dachgeschosswohnung brachte, die er sein Zuhause nannte. Todmüde und umgeben von all den leeren Schafsgesichtern, grübelte er über die Umstände nach, die für ihrer aller Existenz verantwortlich waren. Jede Geburt war bei genauerer Betrachtung reiner Zufall. Bei einhundert Millionen Spermien, die blind durch die Dunkelheit schwammen, war die Chance, eine bestimmte Person zu werden, verschwindend gering. Wie viele der Fahrgäste in diesem Wagen waren geplant gewesen, fragte er sich, vor Müdigkeit ganz benommen, und wie viele waren wie er selbst Unfälle?

In seiner Grundschulklasse hatte es ein Mädchen mit einem Feuermal im Gesicht gegeben, und Strike hatte immer eine geheime Verbindung zwischen ihnen verspürt. Beiden haftete seit ihrer Geburt ein unveränderliches Merkmal an, das sie von den anderen unterschied und für das sie nicht verantwortlich waren. Selbst sehen konnten sie es nicht, dafür aber alle anderen – und die hatten nicht einmal den Anstand, es höflich zu ignorieren. Die Faszination, die wildfremde Menschen ihm gegenüber gelegentlich empfanden, hatte der damals Fünfjährige auf seine Einmaligkeit und Einzigartigkeit zurückgeführt – bis er irgendwann begriff, dass man ihn lediglich als die Zygote eines berühmten Rocksängers betrachtete, als das zufällige Nebenprodukt des Fehltritts eines treulosen Prominenten. Strike war seinem leiblichen Vater nur zwei Mal begegnet. Jonny Rokeby hatte seine Vaterschaft erst nach einem DNS-Test anerkannt.

Dominic Culpepper stellte die Verkörperung der überheblichen Sensationsgier dar, die Strike immer dann entgegenschlug, wenn jemand den griesgrämigen Exsoldaten mit dem alternden Rockstar in Verbindung brachte, was dieser Tage nicht mehr allzu häufig vorkam – aber wenn doch, dann dachten alle sofort an Treuhandfonds und großzügige Geschenke, Privatjets und VIP-Lounges und die nie versiegende Freigiebigkeit eines Multimillionärs, und angesichts der Bescheidenheit seines Lebensstils und der endlosen Überstunden, die er machte, fragten sie sich dann: Was hatte Strike nur getan, um es sich mit seinem Vater zu verscherzen? War seine Armut nur vorgetäuscht, um Rokeby mehr Geld aus den Rippen zu leiern? Was hatte er mit den Millionen angestellt, die seine Mutter aus ihrem reichen Liebhaber herausgequetscht haben musste?

In solchen Augenblicken dachte Strike wehmütig an die Army, an die Anonymität eines Berufsstandes, in dem die eigene Herkunft gegenüber der Befähigung und Pflichterfüllung so gut wie keine Rolle spielte. Das Persönlichste während seines Vorstellungsgesprächs bei der Special Investigation Branch war die Bitte gewesen, ob er wohl die beiden seltsamen Namen noch einmal wiederholen könne, die ihm seine übertrieben unkonventionelle Mutter aufgebürdet hatte.

Als Strike wieder aus dem Untergrund auftauchte, herrschte auf der Charing Cross Road bereits starker Verkehr. Die graue halbherzige Novemberdämmerung war immer noch voller düsterer Schatten. Erschöpft und todmüde bog er in die Denmark Street und sehnte sich nach einem kurzen Nickerchen, das er sich noch gönnen wollte, ehe um neun Uhr dreißig der erste Klient bei ihm auftauchte. Er winkte der jungen Verkäuferin im Gitarrenladen zu, mit der er hin und wieder auf der Straße eine Zigarette rauchte, schloss die schwarze Tür neben dem 12 Bar Café auf und nahm die schmiedeeiserne Wendeltreppe in Angriff, die sich um den Schacht eines defekten Aufzugs wand. Vorbei am Büro des Grafikdesigners im ersten Stock, vorbei an seinem eigenen Büro mit der gravierten Glastür im zweiten und hinauf auf den dritten und schmalsten Treppenabsatz, der zu seiner derzeitigen Behausung führte.

Der vorherige Bewohner, dem die Kneipe im Erdgeschoss gehörte, hatte sich ein anderes, komfortableres Quartier gesucht. Strike, der gezwungen gewesen war, mehrere Monate in seinem Büro zu übernachten, hatte die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und die Wohnung gemietet. Er war dankbar dafür gewesen, seiner Obdachlosigkeit auf so einfache Weise ein Ende setzen zu können. Platz war unter den Dachbalken in jeder Hinsicht knapp bemessen, ganz besonders für einen Mann von eins zweiundneunzig. In der Dusche konnte er sich kaum umdrehen. Küche und Wohnzimmer gingen ungünstig ineinander über, und das Schlafzimmer war fast vollständig von einem Doppelbett ausgefüllt. Trotz der Proteste des Vermieters befanden sich noch immer mehrere Kisten mit Strikes Habseligkeiten auf dem Treppenabsatz.

Durch die kleinen Fenster hoch über der Denmark Street waren die Dächer der Nachbarhäuser zu erkennen. Das ständige Basswummern aus der Kneipe im Erdgeschoss war hier so weit gedämpft, dass Strike es mit seiner eigenen Musik größtenteils übertönen konnte.

Strikes angeborene Ordnungsliebe war unübersehbar: Das Bett war gemacht, das Geschirr sauber und alles an seinem Platz. Er hatte eine Dusche und eine Rasur nötig, doch das konnte warten; nachdem er seinen Mantel aufgehängt hatte, stellte er den Wecker auf neun Uhr zwanzig und streckte sich vollständig bekleidet auf dem Bett aus.

Binnen Sekunden war er eingeschlafen und nach einigen weiteren – zumindest kam es ihm so vor – wieder hellwach, weil jemand an seine Tür klopfte.

»Cormoran, tut mir leid, wirklich …«

Draußen stand seine Assistentin, eine hochgewachsene junge Frau mit langem rotblondem Haar. Ihre bedauernde Miene verwandelte sich bei seinem Anblick in einen Ausdruck milden Entsetzens.

»Alles in Ordnung?«

»Hab geschlafen … War die ganze Nacht unterwegs – zwei Nächte sogar.«

»Tut mir wirklich leid«, wiederholte Robin. »Aber es ist schon zwanzig vor zehn, und William Baker ist hier und will …«

»Scheiße«, murmelte Strike. »Der verdammte Wecker is’ wohl … Ich brauch noch fünf Min…«

»Außerdem«, fiel Robin ihm ins Wort, »wartet eine Frau auf Sie. Sie hat keinen Termin, und ich habe ihr gesagt, dass Sie keine Zeit für eine weitere Klientin haben, aber sie weigert sich zu gehen.«

Strike gähnte und rieb sich die Augen.

»Fünf Minuten. Machen Sie ihnen Tee oder so.«

Sechs Minuten später betrat der immer noch unrasierte, aber nach Zahncreme und Deodorant duftende und mit einem frischen Hemd bekleidete Strike das Vorzimmer, wo Robin an ihrem Computer saß.

»Na ja, besser spät als nie«, sagte William Baker mit einem steifen Lächeln. »Zum Glück haben Sie eine so gut aussehende Sekretärin, sonst hätte ich vor Langeweile längst das Weite gesucht.«

Strike sah, wie Robin vor Zorn errötete, sich abwandte und demonstrativ die Post sortierte. Baker hatte das Wort »Sekretärin« mit einem unverkennbar beleidigenden Unterton ausgesprochen. Der Geschäftsführer in dem makellosen Nadelstreifenanzug hatte Strike angeheuert, um zwei seiner Aufsichtsratsmitglieder durchleuchten zu lassen.

»Morgen, William«, sagte Strike.

»Keine Entschuldigung?«, murmelte Baker, die Augen zur Decke gerichtet.

Strike beachtete ihn nicht weiter, sondern wandte sich an die dünne Frau mittleren Alters, die in einem abgetragenen braunen Mantel auf dem Sofa saß: »Hallo, und wer sind Sie?«

»Leonora Quine«, antwortete sie. Strikes feines Ohr glaubte, einen vertrauten West-Country-Akzent zu hören.

»Ich habe heute Morgen einen sehr straffen Terminplan«, sagte Baker und marschierte, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, schnurstracks in Strikes Büro. Als er bemerkte, dass Strike ihm nicht folgte, bekam seine aalglatte Fassade Risse. »Ich glaube kaum, dass Sie in der Army mit Unpünktlichkeit weit gekommen sind, Mr. Strike. Wenn ich Sie jetzt bitten dürfte?«

Strike schien ihn nicht zu hören.

»Was genau kann ich für Sie tun, Mrs. Quine?«, fragte er die schäbig gekleidete Frau auf dem Sofa.

»Also, es geht um meinen Mann …«

»Mr. Strike, ich habe in knapp einer Stunde einen Termin«, sagte William Baker, diesmal etwas lauter.

»… und Ihre Sekretärin hat gesagt, dass sie eigentlich keine Zeit mehr haben, aber ich wollte trotzdem warten.«

»Strike!«, bellte William Baker, als wollte er einen Hund zurückpfeifen.

»Robin«, knurrte der übermüdete Strike, der nun doch die Geduld verlor. »Schreiben Sie Mr. Baker eine Rechnung, und geben Sie ihm seine Akte. Sie ist auf dem neuesten Stand.«

»Wie bitte?« Fassungslos kehrte William Baker in das Vorzimmer zurück.

»Er hat Sie abgesägt«, bemerkte Leonora Quine zufrieden.

»Noch haben Sie Ihren Auftrag nicht erfüllt«, sagte Baker. »Sie sagten, es gebe noch mehr …«

»Das kann jemand anderes für Sie erledigen. Jemand, dem es nichts ausmacht, blöde Wichser als Klienten zu haben.«

Die Atmosphäre im Büro kühlte merklich ab. Mit versteinerter Miene holte Robin Bakers Akte...