Engelskalt - Thriller

von: Samuel Bjørk

Goldmann, 2015

ISBN: 9783641152543 , 576 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Engelskalt - Thriller


 

• 3 •

Holger Munch schwitzte, als er in der Ankunftshalle von Værnes stand und auf die Schlüssel zu seinem Mietwagen wartete. Das Flugzeug war zu spät gelandet, wie üblich, weil es Nebel in Gardermoen gegeben hatte, und Holger dachte wieder an den Forscher Jan Fredrik Wiborg, der angeblich in Kopenhagen Selbstmord begangen hatte, nachdem er die Pläne zur Verlegung des Osloer Flughafens wegen der Wetterverhältnisse kritisiert hatte. Noch jetzt, achtzehn Jahre später, ging die Sache ihm nicht ganz aus dem Kopf, ein erwachsener Mann stürzte aus einem viel zu kleinen Hotelfenster, ohne Grund und unmittelbar, bevor die Flugplatzaffäre im Parlament diskutiert werden sollte? Und warum hatte weder die dänische noch die norwegische Polizei in dem Fall gründlich ermitteln wollen?

Holger Munch wurde aus seinen Gedanken gerissen, als die Blondine am Schalter von Europcar sich räusperte, weil er an der Reihe war.

»Munch«, sagte er kurz. »Der Wagen sollte bestellt sein.«

»Ach, Sie kriegen also das neue Museum in Oslo?«, fragte die Frau in der grünen Uniform mit einem Augenzwinkern.

Munch begriff den Scherz nicht sofort.

»Oder sind Sie nicht der Maler?«, fragte die Frau lächelnd und bearbeitete munter weiter die Tastatur.

»Was? Nein, nicht der Maler, nein«, sagte Munch. »Nicht einmal verwandt.«

Dann würde ich nicht hier stehen, bei dem Erbe, dachte Munch, als die Frau ihm ein Papier zum Unterschreiben reichte.

Holger Munch hasste es zu fliegen, deshalb war seine Laune nicht die beste. Nicht weil er Angst vor einem Flugzeugabsturz hatte; Holger Munch war Hobbymathematiker und wusste, dass die Gefahr, dass ein Flugzeug abstürzte, kleiner war als die, zweimal am selben Tag vom Blitz getroffen zu werden. Nein, Holger Munch hasste das Fliegen, weil er inzwischen fast nicht mehr in den Sitz passte.

»So«, sagte die Frau in der grünen Uniform mit freundlichem Lächeln und reichte ihm die Schlüssel. »Ein schöner großer Volvo V70, alles bezahlt, Mietdauer und Fahrstrecke offen, Sie können ihn abliefern, wann und wo Sie wollen, gute Fahrt.«

Groß? Sollte auch das ein Witz sein, oder sollte es ihn beruhigen? Hier hast du ein Auto, in dem selbst du Platz hast, denn du bist so rund geworden, dass du kaum noch deine Schuhe sehen kannst?

Holger Munch warf einen Blick auf sein Spiegelbild in den großen Fenstern der Ankunftshalle, als er zum Parkhaus ging. Es war jetzt vielleicht an der Zeit. Ein bisschen Sport zu treiben. Etwas gesünder zu essen. Ein paar Kilo abzunehmen, neuerdings hatte er solche Gedanken, aus mehreren Gründen. Durch die Straßen Kriminellen hinterherzulaufen, damit hatte er schon längst aufgehört, er hatte Beamte unter sich, die das machen konnten, nein, es lag nicht daran, aber Holger Munch war in den letzten Wochen sogar ein wenig eitel geworden.

Meine Fresse, Holger, neuer Pullover? Meine Fresse, Holger, neue Jacke? Meine Fresse, Holger, hast du dir den Bart gestutzt?

Er schloss den Volvo auf, steckte das Telefon ins Stativ und schaltete es ein. Er legte den Sicherheitsgurt an und fuhr auf die Innenstadt von Trondheim zu, während die Mitteilungen eingingen. Er seufzte. Eine Stunde ohne Telefon, und schon ging es wieder los. Nie frei von der Welt. Es stimmte nicht ganz, dass nur die Flugreise ihm die Laune verdorben hatte. In letzter Zeit war so viel gewesen. Bei der Arbeit und an der Heimatfront. Holger fuhr mit den Fingern über das Display des Smartphones, das er sich hatte kaufen müssen, jetzt war Hightech angesagt, die Truppe hatte up to date zu sein, auch in Hønefoss, wo er die vergangenen achtzehn Monate verbracht hatte. Polizeibezirk Ringerike. Dort hatte er seine Laufbahn begonnen, und jetzt war er wieder hier. Wegen der Geschehnisse am Tryvann.

Sieben Anrufe von der Zentrale in Grønland. Zwei von der Exgattin. Einer von seiner Tochter. Zwei aus dem Pflegeheim. Außerdem zahllose SMS. Die Zentrale lag strategisch günstig an einem der größten Plätze der Stadt, dem Grønland-Platz, und mittlerweile hatte es sich eingebürgert, dass alle nur noch von den Kollegen in Grønland sprachen, wenn eigentlich die Kollegen in der Zentrale gemeint waren.

Holger Munch überließ die Welt noch eine Weile ihrem Schicksal und schaltete das Radio ein. Er fand NRK Klassik, kurbelte das Fenster herunter und steckte sich eine Zigarette an. Die Zigaretten waren sein einziges Laster, abgesehen vom Essen natürlich, aber das war etwas ganz anderes. Mit dem Rauchen aufzuhören, das hatte Holger Munch nicht vor, egal, wie viele Gesetze die Politiker sich ausdachten und wie viele »Rauchen verboten«-Schilder überall auftauchten, wie etwa am Armaturenbrett dieses Mietwagens.

Man konnte nicht denken, ohne zu rauchen, und wenn Holger Munch etwas gern tat, dann denken. Das Gehirn benutzen. Der Körper war nicht so wichtig, solange das Gehirn funktionierte. Im Radio wurde Händels Messias gespielt, nicht Munchs Lieblingsstück, aber es war schon in Ordnung. Er stand eher auf Bach, ihm gefiel das Mathematische in der Musik, nicht alle diese Gefühlskomponisten. Wagners arische Kriegshetze, Ravels impressionistische emotionale Welt. Munch hörte klassische Musik, um diesen menschlichen Gefühlen zu entgehen. Wenn der Mensch eine Matheaufgabe wäre, wäre alles viel leichter. Er fuhr rasch mit dem Finger über seinen Trauring und dachte an Marianne, seine Exfrau. Zehn Jahre war das her, und doch brachte er es nicht über sich, den Ring abzulegen. Sie hatte angerufen. Wollte sie vielleicht?

Nein. Die Hochzeit natürlich. Sie wollte über die Hochzeit reden. Sie hatten eine Tochter. Miriam wollte heiraten. Praktische Dinge mussten diskutiert werden. Das war alles. Holger Munch warf die Zigarette aus dem Fenster und steckte sich eine neue an.

Ich trinke keinen Kaffee, und ich rühre keinen Alkohol an. Da muss es doch verdammt noch mal erlaubt sein, eine zu rauchen!

Holger Munch war nur ein einziges Mal betrunken gewesen, mit vierzehn Jahren, vom Kirschwein seines Vaters in der Hütte bei Larvik, und seitdem hatte er keinen Alkohol mehr angerührt. Ihm fehlte das Bedürfnis. Er hatte keine Lust. Die Gehirnzellen durcheinanderzubringen? Könnte ihm nicht einfallen. Zigaretten dagegen, und vielleicht ein Hamburger?

Er hielt vor der Tankstelle an der Raststätte Gjestegård und bestellte ein Baconburgermenü, das er auf einer Bank mit Blick über den Trondheimsfjord verzehrte. Wenn die Kollegen Holger Munch mit drei Wörtern hätten beschreiben müssen, dann wären zwei davon vermutlich »Nerd« gewesen. Clever vielleicht noch oder ein bisschen zu nett. Aber garantiert »Nerd«. Ein dicker sympathischer Nerd, der niemals Alkohol anrührte und Mathematik, klassische Musik und Schach liebte. Ein bisschen langweilig vielleicht, aber ein ganz hervorragender Ermittler. Und ein gerechter Chef. Da war es auch in Ordnung, dass er nie auf ein Bier mitging oder dass er mit keiner Frau mehr zu tun gehabt hatte, seit seine Frau ihn für einen Lehrer aus Hurum verlassen hatte, der jedes Jahr zwei Monate Urlaub hatte und nie mitten in der Nacht aufstehen musste, ohne verraten zu dürfen, wohin er gerufen worden war. Niemand hatte eine so gute Aufklärungsrate wie Holger Munch, das wussten alle. Alle mochten Holger Munch. Trotzdem saß er jetzt wieder in Hønefoss.

Ich degradiere dich nicht, ich versetze dich. So, wie ich das sehe, kannst du froh sein, dass du überhaupt noch einen Job hast.

Er hätte am liebsten auf der Stelle gekündigt, vor Mikkelsons Büro unten in Grønland, hatte sich aber zusammengerissen. Was hätte er denn sonst tun sollen? Sich beim Sicherheitsdienst verdingen?

Holger Munch setzte sich wieder ins Auto und folgte der E6 nach Trondheim. Er steckte sich eine Zigarette an und fuhr über die Umgehungsstraße nach Süden. Im Mietwagen gab es ein GPS, aber das schaltete er nicht ein. Er wusste, wohin er wollte.

Mia Krüger.

Er widmete seinen alten Kollegen einen freundlichen Gedanken, dann klingelte wieder sein Telefon.

»Munch hier.«

Mikkelson am anderen Ende, aufgeregt, kurz vor dem Herzinfarkt, wie immer. Wie der Mann zehn Jahre im Chefsessel unten in Grønland überlebt hatte, war für viele ein Mysterium.

»Ich bin im Auto, und du?«, sagte Munch trocken.

»Im Auto wo? Bist du schon da?«

»Nein, ich bin noch nicht da, ich bin gerade gelandet. Was gibt’s denn?«

»Ich wollte nur überprüfen, ob du auch das tust, was wir beschlossen haben.«

»Ich habe den Ordner hier, und ich habe vor, ihn zu überreichen, wenn du das meinst«, sagte Munch seufzend. »Hast du mich wirklich nur deswegen hier hochgeschickt? Wie wäre es mit einem Kurier gewesen? Wir hätten doch die Kollegen vor Ort schicken können.«

»Du weißt genau, warum gerade du da bist«, antwortete Mikkelson. »Und ich will, dass du diesmal auch das tust, was dir gesagt wurde.«

»Erstens«, Munch seufzte wieder und warf die Kippe aus dem Fenster, »schulde ich dir nichts. Und zweitens schulde ich dir nichts. Drittens bist du dafür verantwortlich, dass ich mein Gehirn nicht mehr dazu benutze, wozu es benutzt werden sollte, also kannst du auch gleich die Klappe halten. Weißt du, an was für Fällen ich gerade arbeite? Willst du das hören, Mikkelson? Woran ich arbeite?«

Für einen Moment herrschte Stille. Munch lachte lautlos in sich hinein.

Wenn Mikkelson...