Einmal zu Dir selbst und zurück - Das Leben wieder bewusst gestalten

von: Thomas Dienberg OFMCap

Camino, 2018

ISBN: 9783961579877 , 144 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 12,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Einmal zu Dir selbst und zurück - Das Leben wieder bewusst gestalten


 

STATION 1


Beobachten, ohne zu werten


Ich sitze im Zug. Draußen sausen Landschaften an mir vorbei, Dörfer und Städte. Rasend rauschen Menschen, Autos, Natur an mir vorüber. Das Leben rauscht vorüber, so wie es ist. Am Beginn meines Lebens habe ich noch gelernt, alles langsam in mich aufgesogen, ich war auf der Suche, habe alles begreifen wollen. Doch zunehmend ist das Leben schneller geworden. Es rast mittlerweile nur so dahin – und nichts lässt sich festhalten.

So ist das Leben, ein Fassen und Begreifen, ein Loslassen und Sterbenmüssen. Mein Leben, das Leben der anderen, das Leben in der Welt.

Das ist eine der ersten Lektionen der Kontemplation: das Begreifen und das Lassen. Und die Erkenntnis: Es ist, wie es ist. Ich lerne sehen, spüren, hören, riechen, schmecken. Ich lerne, wie intensiv dieses Leben sein kann und ist, wenn ich meine Sinne nutze, sie wirklich benutze. Ich nehme wahr, lerne begreifen – und im Begreifen übe ich schon das Loslassen ein. Gerüche, Geschmäcke, Gehörtes und Gesehenes – so intensiv die Eindrücke auch sein mögen, sie vergehen. Ich kann sie nicht einfangen und halten. Im Begreifen verabschieden sie sich wieder. Im Leben ist es nicht anders.

Die folgenden Übungen führen ein in den Reichtum der Begegnung mit dem Alltag, mit den kleinen bereichernden Momenten im Alltag, die ihn noch wertvoller und lebendiger machen. Gleichzeitig schenken sie mir Ruhe und Konzentration. Sie vermitteln mir eine Ahnung von dem, was sich in der schlichten und einfachen Wahrnehmung und der Begegnung mit dem Leben ereignen kann: die Begegnung mit mir, dem anderen, der Welt und – dem Göttlichen.

Die Übungen sind strukturiert, sie können also der Reihe nach eingeübt werden. Aber es kann sich auch jeder und jede diejenigen Übungen heraussuchen, die auf den ersten Blick die besten oder attraktivsten oder auch leichtesten zu sein scheinen. Wie oft die Übungen dann praktiziert werden, auch das ist eine Sache der Wahl. Wer übt, hat sein eigenes Tempo – und es geht nicht um das bloße Absolvieren, sondern um das Einschwingen in die Wirklichkeiten des Lebens. Das benötigt Zeit. Manches geht ganz schnell, manches scheint dann überflüssig, anderes wiederum ganz wichtig.

Übung 1


Ich setze mich auf eine Bank in der Stadt oder auch in ein Café ans Fenster. Ich schalte mein Handy auf lautlos, am besten auf Flugmodus, bestelle einen Kaffee oder Tee oder sitze einfach nur auf der Bank.

Ich beobachte das, was um mich herum geschieht: die Passanten, die vorbeilaufen, eilig, ruhig, für sich, im Gespräch mit anderen, geschäftig oder schlendernd. Ich sehe, wie sie sich bewegen, wie sie laufen, wie sie gekleidet sind, alt und jung, mittelalt, Kinder und Greise. Die Vielfalt der Menschen läuft an mir vorüber – und ich sehe ihnen einfach zu. Ich versuche nicht zu werten, sie nicht in eine Schublade einzuordnen und mich zu fragen, was diese Menschen wohl machen. Ich versuche, nicht dem automatischen Impuls, sie als sympathisch oder unsympathisch zu empfinden, stattzugeben. Ich nehme sie als die Personen an, die sie sind – als die sie sich mir zeigen, so wie sie eben sind.

Ich sitze hier für zehn Minuten, nicht länger, aber auch nicht kürzer.

Die Vielfalt der Menschen läuft an mir vorüber – und ich sehe ihnen einfach zu.

Kurz bevor ich aufstehe, denke ich noch einmal über das nach, was ich gesehen habe, über die Eindrücke, die Blicke, die Beobachtungen. Was ist mir aufgefallen? Und wie geht es mir jetzt?

Ich schreibe nur drei Wörter auf, die das Gesehene beschreiben – und finde ein Wort für mein persönliches Empfinden.

In meinem Buch stehen also nicht mehr als vier Wörter: drei für die gesehene Wirklichkeit des Lebens, eines für mich inmitten dieses Lebens.

Drei Wörter für die Welt und eines für mich

Übung 2


Mitten im Alltag, im Beruf, bei der Arbeit oder beim Einkauf nehme ich mir fünf Minuten Zeit, ganz bewusst. Ich nehme mir vor, diese Zeit auch einzuhalten.

Ich schaue mich um, im Raum, im Saal, im Supermarkt, wo auch immer ich gerade bin. Ich versuche die Szene, die sich mir bietet, einzufrieren wie ein Foto, ein schönes und reiches, ein buntes und volles Foto. Personen, Gegenstände, raumgestaltende Elemente, so vieles gibt es auf diesem Foto zu sehen. Und ich versuche, es wirklich umfassend wahrzunehmen, auch wenn vieles vielleicht nur banal ist, eben alltäglich. Aber ich werte nicht, sondern sehe nur, schaue intensiver hin und nehme wahr, was ist und sich mir auf dem Foto so alles bietet.

Person für Person, Gegenstand für Gegenstand scanne ich auf dem Foto mit meinen Blicken ab. Vielleicht fällt mir ja etwas ganz Ungewöhnliches auf, das ich vorher immer übersehen habe, etwas Witziges oder Wichtiges oder etwas Seltsames!

Nach den fünf Minuten lenke ich meinen Blick auf den Platz, wo ich stehe oder sitze. Ich achte darauf, wie ich es tue, und lausche dabei auf mein Inneres. Was nehme ich wahr?

Vielleicht fällt mir ja etwas ganz Ungewöhnliches auf, das ich vorher immer übersehen habe.

Welche Worte finde ich, die beschreiben, was ich gesehen habe? Wenige Worte, die das Foto – dieses alltägliche Panorama – einfangen.

Ich schreibe sie auf. Vielleicht gibt es noch etwas Zusätzliches, das mir wichtig ist und das ich festhalten möchte: den Gesamteindruck des Fotos oder einen Gedanken, der mich bewegt und es verdient, nicht vergessen zu werden. Das schreibe ich ebenfalls auf, und zwar in gebotener Kürze.

Mein Foto des Tages

Übung 3


Ich bin zu Hause, in meinen eigenen vier Wänden. Ich suche mir den Raum aus, in dem ich mich am wohlsten fühle. Diesen Raum, der mich einlädt, wirklich zu Hause zu sein. Hier werde ich im Laufe der Übungen oft einkehren.

Ich suche mir einen Platz, setze mich hin und schaue mich um. So oft schon habe ich hier gesessen. Den Raum habe ich selbst eingerichtet, vielleicht mit meinem Partner oder meiner Partnerin. Es ist ein Raum, der Geschichten erzählen kann, von mir, von meinem Leben, von Begegnungen. Einige waren schön, manche vielleicht weniger. Für einen Moment habe ich diesen Raum ganz für mich, für mich allein. Es ist mein Raum.

Ich schaue mich um. Was sehe ich? Fällt mir etwas auf, das ich schon lange vergessen habe und völlig aus meinem Blick geraten ist? Was verbinde ich mit diesem Raum, welche Geschichten erzählt er mir?

Ich sitze zehn Minuten ganz ruhig und schaue mich um, nehme intensiv wahr und horche in mich und diesen Raum hinein.

Dann nehme ich mir meine Notizen und schreibe die eine Geschichte auf, die ich nicht mehr vergessen möchte. Ich beschreibe einen Gegenstand, der mir mit einem Mal wieder wichtig erscheint, den ich vergessen hatte, der zu mir und meinem Leben und diesem Raum gehört. Er bedeutet für mich ein kleines Stück Heimat. Aber warum? Welche Geschichte erzählt dieser Gegenstand? Ich schreibe sie auf.

Es ist ein Raum, der Geschichten erzählen kann, von mir, von meinem Leben, von Begegnungen.

Ein Stück Heimat

Übung 4


Ich gehe noch einmal in den Raum, in dem ich mich wohlfühle. In meinen Raum, wo ich Heimat und Geborgenheit finde. Ich setze mich hin und beobachte wieder, nehme wahr – und vielleicht kommt mir wieder die Geschichte oder der Gegenstand in den Sinn, der mir schon einmal wichtig geworden ist.

Vielleicht ist da aber auch noch etwas anderes, etwas Verborgenes, etwas, das ich übersehen und überhört habe.

Meine Augen blicken umher, Erinnerungen holen mich ein, berühren mich – und ich lasse mich berühren. Ich spüre in mir nach. Welche Gefühle werden geweckt? Schöne, weniger schöne, berührende? Welche genau? Gefühle und Erinnerungen, die Tränen auslösen?

Ich lasse mich einfach gehen. Was kommt, das kommt und ich lasse es kommen. In aller Ruhe und Stille, nur für mich.

Ich schreibe nach 15 Minuten auf, welche Gedanken und Gefühle mich beschäftigt haben. Auch hier gilt wieder: Kürze und Prägnanz!

Meine Augen blicken umher, Erinnerungen holen mich ein, berühren mich – und ich lasse mich berühren.

Ein zweites Stück Heimat

Übung 5


Ich gehe an einen Ort, der mich einlädt, ruhig zu werden. Zu einer Bank am Waldrand oder in eine Kirche, vielleicht an einen Platz am Flussufer oder an einen ganz anderen Ort, mit dem ich etwas verbinde.

Ich setze mich hin und schaue mich um. Was sehe ich? Was hält meinen Blick gefangen? Was ist weniger wichtig und bedeutend? Ich schaue umher und lasse meine Gedanken...