Die Schweigende - Roman

von: Ellen Sandberg

Penguin Verlag, 2020

ISBN: 9783641246099 , 544 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 10,99 EUR

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Die Schweigende - Roman


 

Imke


Die Biene gab nicht auf. Wieder und wieder flog sie gegen die Scheibe des Wohnzimmerfensters, krabbelte ein Stück nach oben und startete einen neuen Versuch, sobald sie den Rahmen erreichte. Eine Weile beobachtete Imke das kleine Drama, dann ging sie in die Küche, nahm ein Glas vom Regal und eine Postkarte ihrer Schwester Geli vom Kühlschrank. Damit kehrte sie ins Wohnzimmer zurück, stülpte das Glas über die Biene und schob die Karte darunter. Das Surren wurde tiefer und hektisch. Mit der Rettungskapsel auf der Hand trat Imke auf die Terrasse und ließ die Biene frei.

Die Luft war nach dem Regenguss der vergangenen Nacht frisch und klar, doch der Himmel noch grau verhangen. Es war einer dieser Tage, die sich seit Papas Tod häuften. Tage, an denen sie schon am Morgen wusste, dass sie alle Kraft von ihr fordern und sie sich am Abend ein Glas Chardonnay einschenken würde, um runterzukommen. Genau wie ihre Mutter es seit über fünfzig Jahren tat. Dabei hatte sie nie wie Mama werden wollen, die ihr bestenfalls ein negatives Vorbild gewesen war. Was sie in ihrem Leben anders machen würde, hatte Imke bereits mit fünfzehn gewusst. Bis auf ein paar Kleinigkeiten hatte sie das gut hinbekommen. Das Glas Wein beispielsweise, nach einem anstrengenden Tag. Wobei sie nur gelegentlich Chardonnay trank, im Gegensatz zu Mama, die sich täglich ihr Glas Luganer gönnte. Schlimmer war die Mauer, die Imke immer wieder einreißen musste. Wenn ihr Mann Moritz zärtlich wurde, baute sich binnen Sekunden diese verdammte Mauer auf, und sie wehrte ihn häufig ab, obwohl sie das nicht wollte. Warum konnte sie seine Nähe nicht gleich zulassen? Weshalb gab es diesen Widerstand in ihr, der ihr auch nach beinahe zwanzig Ehejahren noch immer weismachen wollte, dass sie es nicht wert war, geliebt zu werden. Diese blöde Macke, von der sie instinktiv wusste, dass sie sie auf verschlungenen Wegen von ihrer Mutter geerbt hatte. Die Biene verschwand aus ihrem Blickfeld. Imke ging hinein.

Schon halb neun. Ihre Familie war längst ausgeflogen. Moritz stand jetzt auf der Baustelle eines Einkaufszentrums in Regensburg, für dessen Statik er verantwortlich war. Ihre Zwillinge Steffi und Tobi saßen in der Schule und bereiteten sich aufs Abi im kommenden Jahr vor. Hoffentlich. Ganz sicher konnte sie nicht sein. Es war Freitag und daher möglich, dass die beiden wieder einmal fürs Klima demonstrierten, während sie versuchte, hier in ihrem Reihenmittelhaus in München-Obermenzing den täglichen Spagat zwischen Hausfrau, Mutter und selbständiger Übersetzerin hinzukriegen. Wobei die Aufträge von Jahr zu Jahr weniger wurden. Übersetzungsprogramme nahmen ihr die Butter vom Brot. Deshalb hatte sie sich entschlossen, ihr Hobby zum zweiten beruflichen Standbein auszubauen. Die Herstellung hochwertiger Seifen. Im Moment konnte sie das allerdings vergessen. Eine weitere Aufgabe schlich sich an: Mama. Ein flaues Gefühl breitete sich in Imke aus. Um diese Verantwortung riss sie sich nicht. Doch sie würde an ihr hängen bleiben. Denn sie lebte nur fünfhundert Meter von ihrem Elternhaus entfernt. Seit Papas Tod vor acht Wochen bewohnte Mama es allein und kam nicht gut zurecht.

Bei dem Gedanken an ihren Vater setzte sich ein Druck in ihre Kehle. Er war so überraschend gestorben, und viel zu früh. Kurz vor seinem neunundsiebzigsten Geburtstag. Wobei sie immer erwartet hatte, nicht nur seinen Achtzigsten, sondern auch seinen Neunzigsten mit ihm zu feiern. Mit Mama eher nicht. Ihre Mutter hatte zeitlebens zu viel Wein getrunken und kaum Sport getrieben, während ihr Vater auf seinem Rennrad und später auf dem Mountainbike kilometermäßig die Erde sicher mehrmals umrundet hatte. Als er vor zwei Jahren die Steigung am Deininger Weiher nicht mehr hinaufgekommen war, hatte er sich ein E-Bike zugelegt. »Das ist kein Mofa«, hatte er erklärt. »Man keucht die Berge trotzdem hinauf, allerdings mit ein bisschen elektrischer Unterstützung, was in meinem Alter sinnvoll ist. Ich will nicht absteigen und schieben. Ich will aber auch nicht tot vom Rad plumpsen.«

Und doch hatte er es beinahe so gemacht. War im Klinikgarten einfach umgefallen. Einen Tag vor der Entlassung, während Imke immer davon ausgegangen war, dass Mama vor ihm sterben würde. Und nun war sie es, um die man sich kümmern musste. Und nicht er, für den sie das gern getan hätte.

Wie dankbar sie rückblickend dafür war, dass sie bei ihm sein konnte, als er starb. Das Schicksal hatte dafür gesorgt, dass er nicht allein war, an diesem strahlend schönen Märztag voller Verheißung, die kurz darauf in Fassungslosigkeit und Trauer umgeschlagen war.

Sie hatte den halbjährlichen Check bei ihrer Gynäkologin in Schwabing hinter sich gebracht und war bereits auf dem Weg zur U-Bahn, als sie sich zu einem Spontanbesuch bei Papa im Krankenhaus entschloss und umkehrte, obwohl er am nächsten Tag entlassen wurde. Bis zur Klinik war es nicht weit, und sie dachte darüber nach, welches Glück er gehabt hatte, so glimpflich davongekommen zu sein. Aber auch, was für ein Schreck es gewesen war, als er sie fünf Tage zuvor aus dem Krankenhaus angerufen hatte. »Mir geht’s gut«, hatte er erklärt. »Kein Grund zur Sorge. Aber du musst das Mama schonend beibringen. Sie wollen mich nicht gehen lassen.«

»Bist du mit dem Rad gestürzt?«

»Die Knochen sind alle heil. Ich habe mich nur ein wenig komisch gefühlt, und da ich grad in der Nähe des Krankenhauses war, habe ich gedacht, es kann nicht schaden, wenn die sich das mal ansehen.«

Ihr Vater war ein Meister im Bagatellisieren. Angst nistete sich hinter ihrem Brustbein ein. »Was ansehen?«

»Na, was wohl, meine Kleine? Meine altersschwache Pumpe.«

»Was ist damit?«

»Ein wenig aus dem Takt geraten. Sie vermuten einen Herzinfarkt und wollen das jetzt ausschließen. Also, du erklärst das deiner Mutter vorsichtig. Ich will nicht, dass sie sich grundlos ängstigt, und dann bräuchte ich noch ein paar Sachen. Pyjama, Zahnbürste und so weiter.«

Er hatte sie immer meine Kleine genannt, obwohl sie die mittlere seiner drei Töchter war. Zuverlässig, wie sie war, hatte sie alles erledigt und war mit Mama und seinen Sachen eine Stunde später bei ihm in der Klinik gewesen. Den Herzinfarkt hatten die Ärzte nicht ausgeschlossen, sondern diagnostiziert. Gott sei Dank war es nur ein leichter. Papa ging es schnell besser. Er hatte großes Glück gehabt.

Mit diesem Gedanken erreichte sie die Klinik und erhielt auf der Station die Auskunft, dass ihr Vater in den Klinikgarten gegangen war, um diesen schönen Tag zu genießen. Also suchte sie dort nach ihm.

In der Wiese blühten Schneeglöckchen und Krokusse. Die ersten Narzissen reckten ihre Köpfe in die Sonne. Bald würde alles blühen. Eine Last fiel von ihr ab. Wie wunderbar, dass es Papa wieder gut ging. Wie herrlich, dass der Frühling kam und er ihn erleben durfte.

Natürlich hatte er in den letzten Jahren abgebaut. Die Muskeln wurden im Alter weniger, trotz seiner regelmäßigen Radtouren. Geschrumpft war er auch. »Es liegt an den Bandscheiben«, hatte er erklärt. »Sie werden dünner, und man wird zum Zwerg.« Aber seinen Humor hatte er sich bewahrt und seine immer gute Laune.

Nun entdeckte sie ihn auf einer Parkbank. Er trug seinen dunkelblauen Bademantel und wirkte aus der Ferne noch kleiner, beinahe eingesunken. Wie eine alte Mauer, deren Fundament nachgab. Ein Gedanke, der ihr einen Stich versetzte. Beim Näherkommen schlich sich Angst an. Etwas stimmte nicht mit ihm. Sie beschleunigte ihre Schritte und erschrak, als sie ihn erreichte. Sein Teint ganz grau, die Lippen violett. Mühsam rang er nach Luft. Sein Blick hielt ihrem nicht stand. Sie beugte sich zu ihm, fasste ihn an der Schulter. »Papa! Durchhalten! Ich rufe einen Arzt.« Hektisch sah sie sich um, während sie das Handy hervorzog. Etwa hundert Meter entfernt näherten sich zwei Krankenschwestern auf einem Kiesweg. »Wir brauchen hier Hilfe!«, rief sie und wedelte mit den Armen. Die Frauen wurden auf sie aufmerksam und eilten auf sie zu. Papa war inzwischen weiter zur Seite gekippt. Sie legte ihn ganz auf die Bank und kniete sich neben ihn. »Mach jetzt keinen Mist, ja?« Noch immer entglitt sein Blick ihrem, obwohl er sich bemühte, ihn zu halten. »Meine Kleine«, stieß er schließlich hervor.

»Spar deinen Atem. Du wirst ihn noch brauchen.«

Er schob seine Hand in ihre. Sie war eiskalt. »Sag Karin, dass ich sie liebe«, stieß er hervor. »Sie war das große Glück in meinem Leben. Sag ihr Danke von mir. Für alles.« Sie wollte widersprechen, er solle das Mama selbst sagen, doch dann verstand sie, dass das jetzt die Stunde war, vor der sie sich fürchtete, seit sie als Kind begriffen hatte, dass ihre Eltern sterben würden. Ihm blieb keine Zeit mehr, und sie nickte. »Mach ich. Versprochen.« Seine Hand zuckte in ihrer. »Such nach Peter.«

Im Laufschritt erreichten die beiden Schwestern die Bank und schoben Imke beiseite. »Herr Remy? Verstehen Sie mich?« Er nickte. Die Schwester gab ihrer Kollegin Anweisungen. Papa versuchte, sich aufzurichten. Seine Hand umklammerte ihre. »Peter«, wiederholte er. Es klang so drängend. »Versprich es.«

»Natürlich, Papa. Versprochen. Ich suche nach ihm.«

»Das ist gut.« Er ließ sich zurückfallen und schloss die Augen. Für immer.

Das Klingeln an der Haustür riss Imke aus ihren Erinnerungen. Ein Lieferdienst gab ein Paket für die neuen Nachbarn ab. Ein Paar mit zwei Kindern hatte das fünfzig Jahre alte Reiheneckhaus nebenan gekauft. Die Eltern arbeiteten beide Vollzeit. Er bei einer Consulting-Firma. Sie bei der Stadtverwaltung. Sohn und Tochter besuchten die Grundschule im Viertel....