Der Massai, der in Schweden noch eine Rechnung offen hatte - Roman

von: Jonas Jonasson

C. Bertelsmann, 2020

ISBN: 9783641258429 , 416 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 10,99 EUR

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Der Massai, der in Schweden noch eine Rechnung offen hatte - Roman


 

2. KAPITEL


Ole Mbatian der Jüngere erbte Namen, Vermögen, Ruf und Begabung von Vater und Großvater. In einer anderen Weltengegend hätte man dazu gesagt: Er wurde mit einem silbernen Löffel im Mund geboren.

Er erhielt eine gründliche Bildung, und zwar wie seine Altersgenossen auf Umwegen: über die Ausbildung zur Kriegskunst. Daher war er jetzt nicht nur Medizinmann, sondern auch ein hoch angesehener Massaikrieger. Niemand kannte sich besser aus mit den Heilkräften von Wurzeln und Kräutern, und kaum einer reichte im Umgang mit Speer, Wurfkeule und Messer an Ole heran.

Medizinisch hatte er sich auf die Behandlung von allzu ausuferndem Kindersegen spezialisiert. Unglückliche Frauen pilgerten zu ihm, von Migori im Westen bis Maji Moto im Osten, etliche Tagesreisen weit entfernt. Damit alle drankamen, hatte er als Bedingung mindestens fünf bereits geborene Kinder pro Hilfesuchender festgesetzt, mindestens zwei davon männlich.

Auch wenn der Medizinmann seine Rezepturen streng geheim hielt, ließ sich doch Bittermelone als ein aktiver Bestandteil der trüben Brühe herausschmecken, die die Frauen bei jedem Eisprung trinken sollten. Bei besonders feinem Gaumen war als weitere Komponente die Wurzel indischer Baumwolle zu erahnen.

An Reichtum übertraf Ole Mbatian der Jüngere alle, einschließlich Häuptling Olemeeli den Weitgereisten. Neben seiner großen Kuhherde besaß Ole drei Hütten und zwei Frauen. Beim Häuptling verhielt es sich genau umgekehrt: zwei Hütten und drei Frauen. Ole war schleierhaft, wie das gut gehen sollte.

Seinen Häuptling hatte der Medizinmann sowieso noch nie gemocht. Sie waren gleich alt und wussten schon von Kindesbeinen an, welche Rollen ihnen später einmal zugedacht waren.

»Mein Papa bestimmt über deinen Papa«, sagte Olemeeli, wenn er ihn ärgern wollte.

Auch wenn er damit theoretisch betrachtet recht hatte, verlor Ole junior doch nur ungern im Streit gegen ihn. Als Lösung bot sich an, dem künftigen Häuptling mit der Wurfkeule eins überzuziehen, worauf Oles Vater nichts anderes übrig blieb, als seinen Sohn vor aller Augen zu züchtigen, während er ihm gleichzeitig lobende Worte ins Ohr flüsterte.

Zu dieser Zeit war im Dorf Kakenya der Schöne an der Macht. Im Stillen quälte ihn das Wissen, dass sein Beiname zwar stimmte, aber genau genommen auch das einzig Beneidenswerte an ihm war. Nicht weniger bekümmerte es ihn, dass sein Sohn, der eines Tages sein Nachfolger werden sollte, offensichtlich bloß die Schwächen seines Vaters geerbt hatte, nicht dessen bemerkenswerte Schönheit. Außerdem gewann das Aussehen des jungen Olemeeli auch nicht eben dadurch, dass der Sprössling des Medizinmannes ihm zwei Schneidezähne ausgeschlagen hatte.

Kakenya der Schöne tat sich furchtbar schwer mit Entscheidungen. Hin und wieder konnte man das ja den Frauen überlassen, doch zu seinem Pech hatte er eine gerade Anzahl. Jedes Mal, wenn sie sich in einer Frage uneins waren (also so gut wie immer), stand er mit seinem Machtwort da und wusste nicht, wohin damit.

Auf seine alten Tage und mithilfe der ganzen Familie fasste Kakenya dann doch einen Entschluss, auf den er stolz sein konnte. Sein ältester Sohn sollte auf Reisen gehen, weiter als irgendwer je zuvor. Auf die Weise würde er voller neuer Eindrücke von der Welt da draußen wiederkehren. Die Weisheit, die er dabei ansammelte, würde ihn zu einem guten Mann machen, wenn es darum ging, die Nachfolge anzutreten. Auch wenn Olemeeli nie so schön wie sein Vater werden würde, konnte er doch ein energischer und zukunftsweisender Häuptling werden. So die Idee.

Leider kommt es ja häufig anders, als man denkt. Olemeelis erste und letzte weite Reise sollte auf väterlichen Befehl nach Loiyangalani führen. Nicht nur, weil es schon fast unvorstellbar weit weg lag, sondern auch, weil es hieß, dass man dort hoch im Norden neue Ideen zur Filterung von Meerwasser hatte. Erhitzter Sand und Vitamin-C-haltige Kräuter, kombiniert mit Seerosenwurzeln, waren altbekannte Methoden. Aber in Loiyangalani hatten sie offenbar etwas entdeckt, das einfacher und zugleich effektiver war.

»Begib dich dorthin, mein Sohn«, sprach Kakenya der Schöne. »Lerne von all dem Neuen, das dir auf deinem Weg begegnet. Danach kehrst du zurück und machst dich bereit. Ich spüre, dass meine Zeit bald gekommen ist.«

»Aber Papa«, sagte Olemeeli.

Mehr fiel ihm nicht ein. Er kam sowieso selten auf die richtigen Worte. Oder den richtigen Gedanken.

Die Reise dauerte eine halbe Ewigkeit. Jedenfalls eine ganze Woche. Endlich angekommen, stellte Olemeeli fest, dass man in Loiyangalani in vielen Dingen weit voraus war. Die Wasserreinigung war nur das eine. Außerdem hatte man etwas installiert, das Strom hieß, und der Bürgermeister schrieb seine Briefe mit einer Maschine statt mit Stift oder Kreide.

Olemeeli wollte eigentlich nur schnell wieder nach Hause, doch die Worte seines Vaters hallten in seinem Kopf nach. Daher sah er sich dieses und jenes etwas näher an, schließlich war er es seinem Vater schuldig. Leider stellte er sich beim Stromprüfen so ungeschickt an, dass er einen Schlag kriegte und minutenlang das Bewusstsein verlor.

Als er wieder zu sich kam, berappelte er sich und versuchte es dann mit der Schreibmaschine. Doch zu allem Unglück blieb er mit dem linken Zeigefinger zwischen D und R stecken und zog die Hand vor lauter Schreck so heftig zurück, dass der Finger an zwei Stellen einriss.

Nun reichte es aber. Olemeeli befahl seinen Trägern, für die mühsame Heimreise zu packen. Er wusste schon, was er seinem Vater Kakenya berichten wollte. Schlimm genug war es, dass einen der Strom beißen konnte, bloß weil man einen Nagel in ein Loch in der Wand steckte. Aber die Maschine zum Schreiben war ja regelrecht lebensgefährlich!

Die Vorhersagen Kakenyas des Schönen trafen selten genug ein. Die Annahme jedoch, dass ihm nicht mehr viel Lebenszeit vergönnt sein würde, erwies sich als korrekt. Verschreckt trat der zahnlückenbehaftete Sohn die Nachfolge an.

Bereits am ersten Tag nach der Trauerfeier erließ der neue Häuptling Olemeeli drei Dekrete:

Erstens: Sogenannter elektrischer Strom durfte niemals im Dorf installiert werden.

Zweitens: Maschinen zum Schreiben durften nicht eingeführt werden, sowie

drittens: Das Dorf sollte in ein ganz neues Wasserreinigungssystem investieren.

So kam es, dass Olemeeli seit bald vier Jahrzehnten über die einzige Talsenke in Masai Mara herrschte, in der es weder Elektrizität noch Schreibmaschinen oder, in der Folgezeit, Computer gab. Es war das Tal, in dem nicht ein einziger der weltweit insgesamt sechs Millionen Handynutzer wohnte.

Er nannte sich Olemeeli der Weitgereiste. Und war ebenso unbeliebt, wie sein Vater es einst gewesen war. Hinter seinem Rücken bekam er einige weniger schmeichelhafte Spitznamen verpasst. Am besten davon gefiel Ole Mbatian dem Jüngeren »Häuptling Zahnlos«.

Der äußerst unbeliebte Häuptling und der anerkannt tüchtige Medizinmann, die beiden wichtigsten Männer im ganzen Dorf, verstanden sich immer noch nicht, konnten sich aber schlecht weiterkloppen wie in ihrer Kindheit. Ole Mbatian fand sich damit ab, dass der Rückständigste von allen nun mal das Sagen hatte. Dafür stellte Olemeeli der Weitgereiste sich taub, wenn der Medizinmann darauf herumritt, wer von beiden noch die meisten Zähne im Mund hatte.

Der Häuptling war für Ole Mbatian ein dauerhaftes, aber auch nur mäßiges Ärgernis. Mehr zu schaffen machte ihm etwas ganz anderes: nämlich dass er vier Kinder mit seiner ersten Frau und vier mit seiner zweiten hatte – acht Töchter, und nicht einen einzigen Sohn! Schon nach dem vierten Mädchen begann er mit seinen Kräutern und Wurzeln herumzuexperimentieren, damit das nächste Kind ein Junge würde. Doch diese medizinische Herausforderung überstieg seine Kräfte. Mit den Töchtern ging es so lange weiter, bis es nicht mehr weiterging. Die Frauen lieferten nicht mehr, auch ganz ohne Bittermelone oder indische Baumwolle in den Mixturen.

Nach fünf Generationen von Medizinmännern würde der Nächste in der Reihe kein Mbatian mehr sein, oder wie auch immer sie hießen. Weibliche Medizinmänner – ein Widerspruch in sich – kamen in der Welt der Massai nicht vor.

Lange Zeit konnte Ole sich damit trösten, dass Häuptling Zahnlos das mit dem Kinderzeugen auch nicht besser gelang: Er bekam sechs Mädchen.

Aber der Häuptling hatte ja noch eine zusätzliche Frau. Kurz vor Erreichen der Altersgrenze lieferte die ihrem Gatten einen Sohn und Stammhalter. Großes Dorffest! Der stolze Vater verkündete, dass die ganze Nacht durchgefeiert werden sollte. Und so geschah es denn auch. Alle vergnügten sich bis in den Morgen, außer dem Medizinmann, der Kopfschmerzen hatte und sich früh schlafen legte.

Das war nun viele Jahre her. Sehr viel mehr Jahre, als Ole vor sich zu haben meinte. Doch noch war er nicht bereit für den Großen Gott. Noch hatte er einiges zu bieten. Er kannte sein genaues Alter nicht. Merkte nur, dass er nicht mehr ganz so treffsicher wie früher mit Pfeil und Bogen umging, nicht mehr ganz so unfehlbar mit Speer, Wurfkeule und Messer war. Obwohl, mit der Wurfkeule schon noch, wenn er es sich recht überlegte. Schließlich war er der aktuelle Dorfmeister in dieser Disziplin.

Auch seine Geschmeidigkeit hatte nicht gelitten. Er bewegte sich mit der gleichen Leichtigkeit wie eh und je. Wenn auch nicht mehr ganz so bereitwillig. Er wurde allmählich bequem. Hatte Zahnschmerzen. Und Mittelchen dagegen. Seine Sicht war trüber als in jungen Jahren, doch das störte ihn nicht. Ole hatte alles Sehenswerte gesehen und...