Der Philosoph des Herzens - Das rastlose Leben des Sören Kierkegaard

Der Philosoph des Herzens - Das rastlose Leben des Sören Kierkegaard

von: Clare Carlisle

Klett-Cotta, 2020

ISBN: 9783608120783 , 464 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 21,99 EUR

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Der Philosoph des Herzens - Das rastlose Leben des Sören Kierkegaard


 

Vorwort


Bei der Frage nach der menschlichen Existenz sei ein Liebesverhältnis immer besonders lehrreich, befand Søren Kierkegaard, nachdem seine einzige Liebesbeziehung mit einer gelösten Verlobung zu Ende gegangen war.[1] Kierkegaard konzipierte eine Philosophie, indem er das Leben aus der Innenperspektive betrachtete. Mehr als jeder andere Denker brachte er die eigene Erfahrung in sein Werk ein. Über das Scheitern seiner Liebe gewann er Einsichten in die menschliche Freiheit und Identität, die den Anfang für seinen anhaltenden Ruhm als »Begründer des Existentialismus« bildeten. Kierkegaard prägte einen neuen philosophischen Stil, der auf dem inneren Drama des Menschseins gründete. Er war ein schwieriger Mensch – und wahrscheinlich kein gutes Vorbild –, aber sein Wille, von den Umständen des Menschseins Zeugnis abzulegen, wirkt noch heute inspirierend. Er wurde zu einem Experten in Sachen Liebe und Leid, Freude und Angst, Verzweiflung und Mut. Er machte die Angelegenheiten des Herzens zum Gegenstand seiner Philosophie, seine Schriften haben Generationen von Lesern bewegt und berührt.

Als die schwedische Schriftstellerin Fredrika Bremer 1849 Kopenhagen besuchte, um über das kulturelle Leben in Dänemark zu berichten, war Kierkegaard schon seit mehreren Jahren eine Berühmtheit seiner Geburtsstadt. Zu einem Treffen der beiden kam es nicht, Kierkegaard schlug ihre Anfragen aus, doch Bremer erfuhr, was man sich über sein rastloses Wesen erzählte: »Am Tage sieht man ihn zu gewissen Stunden auf den volksreichsten Straßen in Kopenhagen, mitten im Volksgewimmel, herum gehen; des Nachts soll seine einsame Wohnung von Licht strahlen.« Es mag nicht überraschen, dass sie ihn als »unzugänglichen« Menschen charakterisierte, dessen Blick »unverwandt auf einen Punkt gerichtet« sei. »Auf diesen Punkt hält er ein Mikroskop«, schrieb sie, »diesen Punkt durchforscht er bis in seine kleinsten Atome, beobachtet dessen leiseste Bewegungen, dessen innerste Verwandlungen; über diesen Punkt spricht er, über diesen Punkt schreibt er wieder und immer wieder zahlreiche Seiten. Alles findet sich für ihn in diesem Punkt. Allein dieser Punkt ist – das menschliche Herz.« Bremer entging nicht, dass Kierkegaards Schriften vor allem weibliche Leser erreichten: »Diesen muss die Philosophie des Herzens nahe liegen.«[2] Doch auch bei Männern entfalteten seine Texte ihre Wirkung – es genügt ein Blick auf die verschiedenen Generationen von Kierkegaard-Lesern, zu denen die einflussreichsten Denker und Künstler des vergangenen Jahrhunderts gehören.

Natürlich war Kierkegaard nicht der Erste, der sich mit dem Sinn des Menschseins beschäftigte. Er arbeitete sich durch die europäische Denktradition und nahm nicht nur die griechische Metaphysik, das Alte und Neue Testament, die Kirchenväter und die Klosterschriften des Mittelalters, Luther und den protestantischen Pietismus, sondern auch die Werke von Descartes, Spinoza, Leibniz, Kant, Schelling und Hegel sowie die Literatur der Romantik in sich auf. In den ideenreichen, stürmischen Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts brachte er die verschiedenen Denkströmungen mit seinem eigenen Dasein in Verbindung, ihre Spannungen und Widersprüche wühlten ihn zutiefst auf. Zugleich war sein Herz von intensiven Liebesbeziehungen – zu seiner Mutter Anne, seinem Vater Michael Pedersen, seiner Verlobten Regine, zu seiner Stadt, seinem Schreiben, seinem Gott – in Beschlag genommen, die allesamt (vermutlich bis auf erstere) tief ambivalent waren.

Im Anschluss werden wir Kierkegaard zum ersten Mal begegnen, als er im Mai 1843 per Zug, Kutsche und Dampfschiff aus Berlin nach Kopenhagen zurückkehrt. Und sofort lernen wir ihn als Schriftsteller kennen, da er eben da, mit 30 Jahren, mit dem Schreiben begann, das ihn berühmt machen sollte. Kierkegaard hatte einen eingängigen Schreibstil, er übertrug sein Seelenleben in seine geliebte dänische Sprache, und selbst in der Übersetzung können wir den Rhythmus seiner Prosa und die Poesie seines Denkens spüren. Was Kierkegaard später seine »schriftstellerische Tätigkeit« nennt, nahm ein Großteil seines Lebens ein und kostete ihn viel Kraft und Geld. Schriftsteller war er, weil er in erstaunlich kurzer Zeit große Bücher schuf und zahlreiche Tagebücher und Notizhefte füllte. Zugleich war das Schreiben für ihn lebensnotwendig, es war seine heftigste Liebe, in die alle weiteren Lieben einflossen. Es war eine kräftezehrende, fordernde Liebe: In jungen Jahren verlangte ihm das Schreiben viel Mühe ab, doch einmal angefangen konnte er nicht mehr damit aufhören. Er beschäftigte sich mit Fragen der Autorschaft und Autorität und war ständig hin- und hergerissen zwischen der Freude am Schreiben und den Widrigkeiten der Veröffentlichung, er war fasziniert vom literarischen Fach und anspruchsvoll in puncto Typografie und Buchbinderkunst.

Er schrieb immer zugleich als Philosoph und als Suchender. Im Höhlengleichnis aus Platons Politeia (Der Staat) entkommt ein Einzelner auf der Suche nach wahrer Erkenntnis der gewohnten Scheinwelt und kehrt zurück, um seiner verständnislosen Umgebung von seiner Entdeckung zu berichten. Eben dieser Archetyp des Philosophen kennzeichnet Kierkegaards Verhältnis zu seiner Welt, der Welt des 19. Jahrhunderts. Ähnlich erkannte Kierkegaard in der alttestamentarischen Geschichte von Abrahams beschwerlichem Opfergang nach Moria die religiösen Motive – die Sehnsucht nach Gott, das mühsame Begreifen der eigenen Bestimmung und die Suche nach einem glaubwürdigen spirituellen Weg –, die auch seine Seele antreiben. Sein Glaube widersetzte sich wiederholt der Konvention, doch seine Überzeugungen waren niemals unorthodox.

Das vorliegende Buch begleitet Kierkegaard bei seinem Ringen mit den »Fragen der Existenz«, die ihm Ansporn und Qual zugleich waren, die ihn lähmten und umtrieben: Was bedeutet Menschsein in der Welt? Er hielt nicht viel von den Abstraktionen der modernen Philosophie und bestand darauf, dass wir inmitten des Lebens, mit unbestimmter Zukunft, herausfinden müssen, wer wir sind und wie wir leben sollen. So wie man nicht aus einem fahrenden Zug aussteigen kann, so lässt sich auch vom Leben kein Abstand nehmen, um über seinen Sinn zu reflektieren. Auf ganz ähnliche Weise betrachtet diese Biografie Kierkegaard nicht von einem entfernten, wissenden Standpunkt aus, sondern schließt sich ihm auf seinem Weg an und begegnet dabei denselben Schwierigkeiten wir er selbst.

Als ich zum ersten Mal mit meinem Lektor über mein Buchvorhaben sprach, meinte er, ich hätte wohl eine »kierkegaardsche« Biografie Kierkegaards vor Augen. Damit hatte er absolut recht, und am Ende war ich verblüfft, wie mich seine Bemerkung während des Schreibens gelenkt hat. Oftmals war ich unsicher, wie ich vorgehen sollte, aber im Rückblick erkenne ich, dass vor allem wichtig war, den unscharfen, schwimmenden Grenzen zwischen Kierkegaards Leben und Schreiben zu folgen und zuzulassen, dass philosophische und religiöse Fragen die Ereignisse, Entscheidungen und Begegnungen prägen, welche die Tatsachen des Lebens bilden. Die Gliederung dieses Buches lehnt sich an die kierkegaardsche Frage nach dem Menschsein in der Welt an. Zu Beginn des ersten Teils »Rückkehr« treffen wir Kierkegaard inmitten seiner Arbeit an Furcht und Zittern an, in dem er eine hoffnungsvolle – und eigentlich sehr schöne – Antwort auf diese Frage gibt. Im zweiten Teil »Rückwärts begreifen« begegnen wir ihm 1848, fünf Jahre später, als er auf sein Leben und Schreiben zurückblickt und die Existenzfrage anders beantwortet. Kierkegaard stand die eigene Sterblichkeit immer deutlich vor Augen, doch im Laufe dieser fünf Jahre veränderte sich sein Umgang mit einem (wie er dachte) kurz bevorstehenden Tod: 1843 stellte dieser noch eine gnadenlose Frist dar und trieb sein Schreiben an, 1848 aber betrachtete er sein Ableben als Vollendung seines schriftstellerischen Wirkens. In »Vorwärts leben« folgen wir Kierkegaard in seiner Auseinandersetzung mit der Welt, am Ende dieses dritten Teils steht dann sein Abschied.

Kierkegaard ist kein einfacher Reisegefährte, obwohl viele Berichte bezeugen, dass er ein charmanter, witziger, einfühlsamer und ungemein interessanter Mensch war. So hielt etwa der dänische Schriftsteller Carl J. Brandt am 1. September 1843 in seinem Tagebuch fest:...