Embodimentorientierte Sexualtherapie - Grundlagen und Anwendung des Sexocorporel

Embodimentorientierte Sexualtherapie - Grundlagen und Anwendung des Sexocorporel

von: Michael Sztenc

Phinex, 2020

ISBN: 9783608116410 , 212 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 34,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Embodimentorientierte Sexualtherapie - Grundlagen und Anwendung des Sexocorporel


 

2 Embodiment: Theorie


Untersuchen Sie ein Baby, so viel Sie wollen, Sie finden niemals heraus, dass es ein Zwilling ist.

(Ezequiel Di Paolo)

2.1 Zum Begriff Embodiment


Embodiment ist ein sehr inflationär benutzter Begriff. Google findet über 35 Millionen Ergebnisse für den Suchbegriff Embodiment. Gerne wird es als Begründung für körperorientiertes Vorgehen oder Einbeziehung des Körpers herangezogen. Allerdings ist Embodiment ein sehr großes Feld, sodass mit der bloßen Erwähnung des Begriffes alles und nichts gesagt ist.

Eine erste Annäherung an eine befriedigende Definition von Embodiment liefert Geuter (2015, S. 82). Er nennt drei Ebenen, auf denen der Begriff verwendet wird:

  • Auf theoretischer Ebene wird Embodiment als wissenschaftliches Paradigma verwendet, bei dem von einer doppelten Einbettung ausgegangen wird: Der Geist ist »verkörpert« und diese Geist-Körper-Einheit ist in die Umwelt »eingebettet«. Das entspricht der Grundannahme des Enaktivismus, einer der Hauptthesen des Embodiment.

  • Auf einer phänomenologischen Ebene beschreibt der Begriff das Phänomen, »sich als man selbst über den eigenen Körper wahrzunehmen« (Giummara et al. 2008, S. 151). Diese Beschreibung spielt auf die Unterscheidung von Körper und Leib an: Der Leib ist der Körper, der man ist – im Gegensatz zum Körper, den man hat.

  • Auf klinischer Ebene wird Embodiment zur Beschreibung des Prozesses benutzt, »in dem der Patient körperlich wach für alle inneren Vorgänge wird (Aposhyan, 2004, S. 52 f.; Levine, 2011, S. 337) oder die sensorischen, emotionalen und geistigen Aspekte des Selbst innerhalb der Grenzen seiner körperlichen Struktur integriert« (Bloom, 2006, S. 5). Hier wird Embodiment im Sinne der Achtsamkeit interpretiert, als Fähigkeit, seine körperliche Befindlichkeit wahrzunehmen und zu steuern. Ist der eigene Körper »bewohnt«, spürt man ihn und erlebt sich darin »verankert«, oder man lebt im Modus des »Autopiloten«, ohne ein Gewahrsein dessen, wie Denken, Wahrnehmen und Lernen mit dem eigenen Körper verwoben sind. Auf dieser Ebene bezeichnet Embodiment den Aspekt der subjektiv erlebten Selbstwahrnehmung, was im Folgenden auch als organismische Gestimmtheit bezeichnet wird.

Jede der drei Ebenen bildet nur einen Teil des Embodiment ab und auch in ihrer Gesamtheit fehlen wichtige Aspekte.

Das verwirrende am Begriff Embodiment ist die Tatsache, dass er sowohl eine Gruppe von Ansätzen (der 4-E-Ansatz, ▶ Kapitel 2.2) als auch einen Ansatz innerhalb dieser Gruppe selbst bezeichnet, wodurch Kategorienfehler unvermeidlich sind. Leider wird dadurch oft unklar, auf welcher Ebene des Embodiment sich ein Autor befindet, wenn er von Embodiment spricht, und was genau damit gemeint ist.

»In a nutshell«, auf das Wesentliche reduziert, besteht die Gemeinsamkeit der verschiedenen Ansätze lediglich in der Aussage: Körper und Geist haben »etwas« miteinander zu tun. Die einzelnen Ansätze unterscheiden – und widersprechen – sich zum Teil sehr in ihren Ansichten, was denn genau Körper und Geist miteinander zu tun haben, was für das Verständnis nicht gerade hilfreich ist.

Als Bezeichnung für ein grundlegendes Paradigma umfasst Embodiment Theorien aus der Philosophie, der Kognitionspsychologie, der Emotionstheorie, der Soziologie, der Biologie, der Theorie dynamischer Systeme, der Informatik, der Künstlichen Intelligenz (KI) und anderer wissenschaftlicher Disziplinen. Des Weiteren haben sich verschiedene Forschungsbereiche dem Embodiment gewidmet. In den Kognitions- und Emotionswissenschaften, der KI-Forschung sowie auch in der Psychotherapieforschung wurde das Konzept aufgegriffen (▶ Kap. 3).

Eine umfassende Darstellung von Embodiment übersteigt den Rahmen dieses Buches, weshalb es sich auf die Teile des Konzepts beschränkt, die für die Bereiche Sexualität und Sexualtherapie von Bedeutung sind. Damit wird natürlich eine Auswahl getroffen, die im Dienste der Komplexitätsreduktion verschiedene Aspekte ausblendet.

In diesem Kapitel wird die Theorie des Embodiment genauer dargestellt, gefolgt von den Implikationen für Sexualität und den Anwendungsmöglichkeiten innerhalb der Sexualtherapie. Nach der kursorischen Darstellung des 4-E-Ansatzes wird der Enaktivismus ausführlich erläutert, weil dieser die relevanten Aspekte für die Sexualtherapie enthält.

Im Anschluss daran werden die wichtigsten Forschungsergebnisse zum Thema Embodiment dargestellt und die Aspekte zusammengefasst, die für den Kontext Sexualität allgemein und den Kontext Sexualtherapie im Speziellen von Bedeutung sind. Abschließend werden diese Erkenntnisse in den größeren Rahmen eines (sexuellen) Gesundheitsmodells gestellt.

2.2 Der 4-E-Ansatz: die Philosophien der Verkörperung


Embodiment steht als Überbegriff für den sogenannten 4-E-Ansatz. Die 4 E’s bezeichnen vier Modelle aus der Kognitionsforschung: Extended-Mind, Embedded-Mind, Embodied-Mind, Enactive-Mind. Innerhalb des 4-E-Ansatzes steht Embodiment synonym für die Theorie des Embodied-Mind und gilt als Sammelthese für das gesamte Modell (Fingerhut et al., 2013).

Nach dem 4-E-Ansatz wird der Geist betrachtet als

  • extended: erweitert über die Körpergrenzen,

  • embedded: eingebettet in die Umwelt,

  • embodied: eingekörpert/verkörpert,

  • enactive: enaktiv oder inszenierend-hervorbringend.

2.2.1 Extended-Mind – der erweiterte Geist

Die Theorie des Extended-Mind wird ebenfalls dem Embodiment zugeordnet, obwohl sie nicht zwangsläufig von einer Körper-Geist-Einheit ausgeht.

Das Extended-Mind-Modell bleibt in der Logik des sogenannten Sandwichmodells (▶ Abb. 2-1). Damit ist die Vorstellung gemeint, dass der Geist – wie eine Gurkenscheibe im Sandwich – zwischen den sensorischen Reizen aus der Außenwelt und den motorischen Handlungen nach der kognitiven Verarbeitung eingeklemmt ist.

Abb. 2-1 Sandwichmodell: Der Geist ist zwischen dem sensorischen Input und motorischen Output »eingeklemmt«.

Das entspricht dem (alten) behavioralen Grundgedanken: Ein Reiz trifft auf einen Organismus, wird vom wahrnehmenden Organ in das Gehirn weitergeleitet und dort verarbeitet. Als Reaktion erfolgt ein motorischer Output, begleitet von einigen Gefühlen und physiologischen Anpassungsreaktionen. Zentrale Be- und Verarbeitungsstelle ist das Gehirn. Es bildet den Schnittpunkt, das Interface, zwischen der reizaufnehmenden Sensorik und der handlungsvollziehenden Motorik. Geist und Körper bleiben prinzipiell voneinander getrennt, ebenso wie Kognition (Verarbeitung im Gehirn) und Emotion (körperliches Begleiterscheinen). Auch wenn dieses Modell in seiner modernen Variante beide Wirkrichtungen berücksichtigt (also vom Körper zum Geist und vom Geist zum Körper), bleibt der Grundgedanke der zweier, voneinander getrennter und unabhängiger Entitäten (Körper hier und Geist da). Das Hirn beinhaltet sozusagen den Geist und der Körper hat die funktionale Rolle, das Gehirn durch die Umwelt zu bewegen.

Nach der Idee des erweiterten Geistes bezieht der Geist nun Elemente der Umwelt in sein Handeln mit ein. Er erweitert sich über seine Körpergrenzen hinaus und dehnt sich in die Umwelt aus. Eine solche Erweiterung kann z. B. ein Notizbuch sein oder ein Smartphone.

Davon abzugrenzen ist das Phänomen der Einkörperung. Dabei wird ein externer Gegenstand, z. B. ein Blindenstock oder eine Prothese, Teil des Körperschemas. Solche Hilfsmittel werden quasi transparent und verlieren ihren Fremdkörpercharakter, weil die Umwelt direkt durch diese Hilfsmittel erfahrbar wird (Thompson & Stapleton, 2008).

2.2.2 Embedded-Mind – der...