Welche Farbe tragen Engelsfedern?

Welche Farbe tragen Engelsfedern?

von: Eve Grass

Shadodex-Verlag der Schatten, 2024

ISBN: 9783985280315 , 372 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 4,99 EUR

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Welche Farbe tragen Engelsfedern?


 

Prolog


 

 

Mit hochrotem Gesicht quälte sich der Mann keuchend durch hüfthohen Schnee den Pfad hinauf. Eine flackernde Fackel zauberte dämonenhafte Lichtspiele auf die glitzernde weiße Pracht. Primitive Schneeschuhe verhinderten das Einsinken.

»Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder.«

Es würde weiterhin schneien und die Einwohner des Dorfes in eine Katastrophe stürzen.

Während er sich mit zitternden Beinen weiter bergan kämpfte, formten sich schlimme Szenen in seinem Kopf. Junge und Alte, löchrige Tücher um die Häupter gewunden, drängten sich in die Kirche, um bei der Heiligen Mutter Schutz zu finden. Magere, vom Arbeiten gerötete Finger verschränkten sich ineinander, beteten in stiller Inbrunst. »… Jetzt und in der Stunde unseres Todes …« Aber die blau gewandete Madonna stand weiterhin stumm auf ihrem Podest, wiegte ihr Neugeborenes im Arm und schaute mit mildem Blick auf die frierenden Dorfbewohner herab. Warum prüfte Gott die Seinen so sehr? Dieser Winter schien alles Leben verschlucken zu wollen.

Er musste zum Hochfels aufsteigen, und keiner durfte ihn dabei beobachten. Das war er den armen Leuten im Dorf schuldig.

Nach einer unendlich erscheinenden Wanderung durch den Wald öffnete sich der schmale Pfad ein wenig, und im Licht der Fackel erschien grauer Fels, der beinahe senkrecht vor ihm aufragte. Durch den Nebel des eigenen Atems hob er den Blick, dann sackte sein magerer Körper auf die Knie.

Der Stein trotzte hier seit Jahrmillionen dem Wind, dem Regen und dem Schnee. Weder Hitze noch Kälte noch Erdbeben hatten ihn je erschüttert. Es war, als hätte Gott den Fels für die Ewigkeit erschaffen. Geknickte Baumstämme, die sich wie Zahnstocher eines riesenhaften Wesens um seine Talsohle gruppierten, zeugten von der Vergänglichkeit des Lebens.

Der steif gefrorene Körper eines toten Rehs lag unter den kahlen Ästen eines Brombeerstrauches. Doch die Augen des Mannes starrten weiter hinauf in das Dunkel der Winternacht, dorthin, wo der Fels mit dem Himmel verschmolz. Er senkte die Fackel ein wenig. Die Kälte drang unerbittlich durch seine wollene Kleidung.

»Hilf uns, Gehörnte«, flüsterten die rauen Lippen.

Dass er eine Sagengestalt aus dem Bayerischen Wald anrief, kam ihm absurd und unwirklich vor. Aber besonders bei der älteren Bevölkerung aus dem Dorf und auch dem benachbarten Böhmisch Eisenstein existierte die gruselige Hexe seit Urzeiten in den Köpfen. Außerdem erinnerte er sich dabei an seine Jugend, die er in einem winzigen Weiler nahe Kötzting verbracht hatte.

Immer wieder war ihm als Bub ein scheußlicher Teufel im Traum erschienen, der ihn nicht nur erschreckte, sondern auch lockte. Wie sehr hatte er sich einst zum Geburtstag ein Fahrrad gewünscht, aber nie bekommen, weil die Eltern bettelarm waren. Nie würde der Mann vergessen, als ihm Beelzebub des Nachts zugeflüstert hatte: »Nimm dir, was du möchtest. Braucht ja keiner zu erfahren, wo du es herhast, Bursche. Du hast es in der Hand, entscheide, ob du so enden willst wie all die anderen armen Trottel.«

Natürlich hatte er niemals ein Rad gestohlen. Aber eine Tüte mit Karamellbonbons war daraufhin in einer Tasche seiner viel zu weiten Hose verschwunden, als er für die Mutter im Kramerladen ein Viertelpfund Butter besorgte.

Die Zuckerstückchen waren ihm nicht bekommen. Das schlechte Gewissen, welches ihn täglich heimgesucht hatte, verwandelte die Bonbons in bittere Medizin.

Bald hatte er deswegen den Mut gefasst, dem Traumteufel die Stirn zu bieten, und ihn in die Schranken verwiesen mit den Worten: »So will ich nicht sein, du garstiger Quertreiber. Ich möchte für das Wohl der Menschen da sein, solange ich auf dieser Welt verweile.«

Da wandelte sich die Ausgeburt der Hölle in den Heiligen Sankt Leonhard, den er aus dem Religionsunterricht kannte, und antwortete: »Du hast deine Wahl getroffen.«

Von dem Tag an träumte er nicht mehr von dunklen Gestalten. Und beim Kramer hatte er sich für den dreisten Diebstahl auch entschuldigt. Auf die Prügel des Vaters, die er danach bezogen hatte, war er heute noch stolz.

Ein Kauz schrie im Wald, ansonsten war nichts zu hören. Bange Sekunden lauschte der Mann in die Dunkelheit, dann erhob er sich aus dem knirschenden Schnee. Eine salzige Träne rann ihm die Wange hinab, während er die Fackel wieder anhob, um den Rückweg auszuleuchten. Die Spuren seiner Schneeschuhe waren deutlich zu erkennen.

Er wandte sich zum Gehen, und die Enttäuschung, keine Antwort erhalten zu haben, schmerzte in diesem Moment mehr als die klirrende Kälte. Doch während er seufzend den ersten Schritt tat, veränderte sich nahe dem Fels etwas. Ein grauer Schleier bildete sich in der Höhe und wand sich um den Stein wie hauchzarter Stoff. Langsam glitt das durchscheinende Gebilde herab.

Wieder setzte er einen Fuß in den Schnee, aber diesmal klang das Knirschen der primitiven Schneeschuhe fast wie unheimliche Worte. Er hielt mitten in der Bewegung inne.

»Was willst du, Mensch?«

Bebend drehte er sich um. Der Fackelschein erhellte den Stein, an dem der wallende, unheimliche Schleier herabglitt, als wäre er nicht von dieser Welt. Zwischen dem Totholz sammelte sich die Masse und richtete sich zu einem schemenhaften Wesen auf. Im Licht des Feuers schälte sich eine Frauengestalt aus dem Grau. Gewundene Hörner ragten aus deren Haupt und verliehen den düstersten Befürchtungen Realität. Ein Schreck jagte ihm durch den Leib, als er erkannte, dass die Erscheinung Flügel trug. Sie bewegten sich hauchzart, und ihre Schatten tanzten im Licht der Fackel. Die Federn daran wirkten weiß, aber die Nacht verlieh ihnen dunkle Nuancen. So hatte er sich das weibliche Ungeheuer aus den Sagen seiner Heimat wahrlich nicht vorgestellt. Eine Mischung aus Dämon und Engel stand ihm gegenüber.

Welche Farbe tragen Engelsfedern?, fuhr ihm durch den Sinn, aber er verdrängte den Gedanken, den viele Einheimische als gotteslästerlich bezeichnet hätten. Die Gestalt, die sich hier zeigte, konnte kein Gottesbote sein.

Hastig senkte der Mann den Blick und fiel erneut auf die Knie. Dieser Anblick war mit den Träumen seiner Kindheit nicht zu vergleichen. Er lag nicht in einem warmen Bett, und der Nachtmahr wäre mit dem abrupten Öffnen der Augen auch nicht vorüber. Er war hierhergekommen, um Hilfe zu erbitten, aber die Angst vor der Erscheinung raubte ihm den ohnehin spärlichen Atem. Doch was hatte er für eine Wahl?

»Der Winter setzt dem Dorf so sehr zu, dass viele Menschen den Tod finden werden«, jammerte er frierend. »Die Kirche ist mit Verzweifelten gefüllt, doch Gott erhört uns nicht. Und zu allem Überfluss erwartet die blutjunge Ehefrau vom Xaver in den nächsten Tagen ihr erstes Kind.«

Leichter Wind kam auf und ließ die pulvrige Schicht des Schnees aufwirbeln. Tausend winzige Diamanten tanzten im Feuerschein wie Irrlichter.

Die zischende Stimme der Erscheinung antwortete ihm unmittelbar: »Wieso machst du Gott für die Jahreszeiten verantwortlich? Auf einen harten Winter folgt stets ein Sommer. Alles auf dieser Welt ergibt einen Sinn. Die Kräfte müssen ausgeglichen sein, Mensch. Ich denke, das ist dir bewusst. Deswegen verzeih ich dir die Störung, auch wenn ich deine Angst bis in den Himmel hinauf riechen kann.«

Die Fackel drohte zu erlöschen. Hastig positionierte sie der Mann hinter seinem Rücken. Er würde den Rückweg ohne das lebensspendende Licht nicht mehr finden und im Wald elend erfrieren, so wie das Reh zwischen den Sträuchern.

Die geisterhafte Stimme begann zu lachen. Es hörte sich an wie das Keckern von Kindern auf einer Sommerwiese. »Ihr werdet den Winter alle überleben. Du hast mein Wort. Kehre zurück ins Dorf und spende den Deinen Trost. Aber bedenke …« Ein heftiger Windstoß fegte über die Lichtung vor dem Hochfels. »Eine Seele schuldest du mir mit dieser Bitte. Sie muss die Waagschale ins Gleichgewicht bringen. So will es das ewige Gesetz.«

»Die Seele wirst du bekommen«, bestätigte der Hagere, erhob sich aus dem Schnee und wandte sich zum Gehen. Diese Forderung würde er nicht erfüllen und in den nächsten Stunden einen Plan entwickeln. Vielleicht gelänge es ihm, den Teufel mit seinen eigenen Waffen zu schlagen? Es war doch der Teufel, oder einer seiner Handlanger, der gerade zu ihm sprach? Mit Willenskraft verdrängte er die aufkommenden Zweifel, die ihn zwickten wie Ameisen unter den Hosenbeinen. War seine schnelle Zusage klug gewesen? Manchmal waren Gottes Wege unergründlich, und doch musste man sie beschreiten.

»Es sind Zwillinge, die in den Raunächten geboren werden. Und eines der Kinder – ein Mädchen mit großem Verstand – werde ich prägen. Es ist an der Zeit, wieder starke Charaktere unter die Menschen zu mischen, die in der Lage sind, den richtigen Pfad zu erkennen. Denn viele von euch sind blind«, flüsterte die Stimme ihm hinterher, bevor sie in einem sanften Lufthauch verstummte und zusammen mit der sich auflösenden Frauengestalt den Fels hinaufkroch, um mit der Dunkelheit zu verschmelzen.

Der frierende Kerl erschauderte zutiefst, aber er wagte es nicht, ein weiteres Wort an die mystische Gestalt zu richten. Die Gehörnte hatte Macht, darüber wussten besonders die Alten und Weisen zu berichten. Viele dunkle Geschichten grassierten insbesondere an den Stammtischen der Wirtshäuser. Auch wenn der liebe Gott den Aberglauben der Dorfbewohner missbilligte, die weibliche Erscheinung vom Hochfels war bekannt und gefürchtet. Man sollte sie niemals erzürnen. Aber manchmal – das würde nie ein Eisenhütter Bürger während der...