Herz und Tal - Roman

von: Jana Lukas

Heyne, 2018

ISBN: 9783641219543 , 400 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 9,99 EUR

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Herz und Tal - Roman


 

1

»Notrufzentrale.«

»Hallo? Hören Sie? Ich brauche die Feuerwehr.«

»Sagen Sie mir bitte Ihren Namen, und nennen Sie den Grund Ihres Notrufes.«

»Sendlmayr ist mein Name. Elisa Sendlmayr. Dieser Dackel über mir hat wahrscheinlich wieder einmal zu viel von seinem Grünzeugs geraucht. Ich meine, es ist mir ja egal, was er in seinem Schlafzimmer anbaut oder ob er die Pflanzen im Sommer auf den Balkon stellt. Die Sonne tut ihnen gut, behauptet er immer. Und ich muss schon sagen, so rein optisch sehen die ja schon hübsch aus, aber …«

»Frau Sendlmayr, nennen Sie mir bitte den Grund Ihres Notrufes. Warum benötigen Sie die Feuerwehr?«

»Ach so, ja. Ich glaube, die Bewässerungsanlage der Hanfplantage ist kaputt. Es tropft durch meine Decke, und zwar direkt auf meinen Biedermeier-Sekretär. Er ist ein Erbstück …«

Emilia schloss die Wohnungstür ab und ging langsam die Treppe hinunter. Die dritte Stufe von oben knarrte, wie sie es an jedem Tag der vergangenen viereinhalb Jahre getan hatte. Im Sonnenlicht, das durch das schmale Oberlicht fiel, tanzten Staubkörner um sie herum, als freuten sie sich, dass Emilia endlich auszog und die Stadt verließ.

Ein letztes Mal ließ sie ihre Finger über das alte Holzgeländer gleiten, das die jahrzehntelangen Berührungen unzähliger Hände glatt geschliffen hatten. Im Erdgeschoss atmete sie tief ein und zog die Haustür auf. Der Schritt über die Schwelle symbolisierte das Ende ihres bisherigen Lebens – und den Neuanfang, den sie so dringend brauchte.

Der sentimentale Moment wurde durch das Klingeln ihres Handys unterbrochen. Emilia schüttelte über sich selbst den Kopf, trat in den kühlen, norddeutschen Sommermorgen und fischte das Telefon aus der Handtasche. »Jonasson.«

»Miriam Leitner hier. Gut, dass ich Sie erreiche, Frau Jonasson.«

Emilia runzelte die Stirn. Sie warf den Schlüssel in den Briefkasten. Wie von selbst fuhr ihr Zeigefinger über die Stelle, an der bis gestern ihr Namensschild geklebt hatte.

Dann riss sie sich zusammen. Wenn die künftige Vermieterin am Tag des Umzuges anrief, verhieß das nichts Gutes. »Gibt es ein Problem mit der Wohnung?«

Die Frau am anderen Ende seufzte. »Das kann man wohl sagen. Ihr Nachbar hat sich als Gärtner betätigt und sich an ein paar illegalen Substanzen versucht. Um es kurz zu machen, die Bewässerungsanlage seiner Hanfplantage hat das halbe Haus unter Wasser gesetzt.«

»Meine Wohnung steht unter Wasser?« Emilia warf einen Blick auf den Umzugswagen. Die Männer mit den blauen Latzhosen luden gerade die letzten drei Kartons auf die Ladefläche. Sie hatte bewusst darauf verzichtet, für den Auszug um Hilfe zu bitten. Ihre Entscheidung, ein neues Leben zu beginnen, war auf Unverständnis gestoßen und galt in ihrem Familien- und Freundeskreis gemeinhin als Kurzschlussreaktion, die sie in einer Woche zutiefst bereuen würde.

»Unter Wasser stehen ist gut«, holte Frau Leitner sie aus ihren Gedanken. »Der Bauinspektor war da. Das Haus ist im Moment nicht bewohnbar. Es tut mir wirklich leid.«

»Aber …«

Miriam Leitner schien sie nicht zu hören. »Dieser Vollidiot. Alle haben mich gewarnt. Habe ich auf irgendjemanden gehört? Natürlich nicht. Ich wollte diesem armen Philosophiestudenten eine Chance geben, auch wenn er schon im dreizehnten Semester war. Und er hat ja immer pünktlich seine Miete gezahlt. Jetzt weiß ich, wie er an das Geld dafür gekommen ist. Hätte er nicht Peyote-Kakteen anbauen können? Die machen auch high – und brauchen kein Wasser.«

»Frau Leitner!«, unterbrach Emilia den Redeschwall.

»Oh, ja. Entschuldigung. Ich schweife ab. Wie gesagt, die Wohnung steht unter Wasser und wird für etwa zwei Monate nicht bewohnbar sein. Das Haus muss komplett saniert werden.«

Emilia rieb mit dem Zeigefinger über die Stelle zwischen ihren Brauen, die bedenklich zu pochen begann. »Was soll ich jetzt tun? Der Umzugswagen ist bereit zur Abfahrt. Wie soll ich denn bis heute Abend eine neue Bleibe finden?« Sie könnte sich zwar in einem Hotel einmieten, aber wo sollte sie ihre Möbel lassen?

»Das ist überhaupt kein Problem. Ich habe eine Unterkunft für Sie organisiert. Auf dem Kastanienhof. Das ist eine wirklich hübsche Pension. Nicht direkt in der Stadt, aber wirklich sehr schön gelegen. Und Ihre Möbel können Sie einlagern. Packen Sie nur ein, was Sie in den nächsten Wochen dringend brauchen. Den Rest stellen wir unter. Auf unsere Rechnung natürlich. Ich schicke Ihnen eine SMS mit der Adresse, und wir unterhalten uns, wenn Sie hier sind. Eine gute Fahrt wünsche ich Ihnen.« Sie legte auf, bevor Emilia noch etwas erwidern konnte.

Ihr Herz klopfte hektisch. Sie ließ das Handy sinken, und plötzlich verstand sie die Einwände ihrer Freunde. Was war in sie gefahren? Einfach so von Bremen nach Rosenheim zu ziehen war eine verdammte Schnapsidee. Sie hatte die Wohnung, die jetzt ein Schwimmbad war, noch nicht einmal in natura gesehen. Hatte sich nur auf Internetfotos verlassen, die ein modernes, helles Apartment versprachen. Das hatte ja nicht gut gehen können.

Die Hydraulik des Möbelwagens summte. Langsam hob sich die Ladeklappe.

»Stopp!«, rief sie und wedelte mit dem Arm. Wenigstens nach außen wollte sie den Eindruck vermitteln, dass sie wusste, was sie tat.

Die Möbelpacker drehten sich irritiert zu ihr um.

»Es tut mir leid, meine Herren, aber es gibt eine kleine Auftragsänderung.« Sie drückte die Schultern durch, zog ihren Notizblock aus der Handtasche und schrieb die Adresse des Möbellagers auf, die Frau Leitner ihr gerade geschickt hatte. Mit zitternden Fingern riss sie das Blatt ab und reichte es dem Fahrer. »Die Ladung muss dorthin geliefert werden. Und vorher müssten Sie bitte meine Kleidung und meine Schuhe wieder ausladen.«

Die Männer von der Umzugsfirma standen vor ihr und starrten sie an. Eine blaue Wand blanker Fassungslosigkeit. »Ihre Klamotten?«, fragte der Fahrer. »Und Ihre Schuhe?«

»Ja. Wenn es Ihnen keine Umstände macht.« Ihre Stimme klang so elend, wie sie sich fühlte.

»Macht es überhaupt nicht«, knurrte er. »Wir haben sie ja nur als Erstes eingeladen.«

Emilias Augenlid begann zu zucken. Was für ein fantastischer Start in ein Leben, das eigentlich so viel einfacher und unproblematischer werden sollte.

Vierzehn Stunden, tausend Kilometer und sechs Staus später lenkte Emilia ihren Mini auf den gekiesten Hof vor einem alten, typisch bayrischen Bauernhaus, das einem Schild an der Abzweigung zufolge Kastanienhof hieß. Nicht direkt in der Stadt, wie Frau Leitner es beschrieben hatte, war eine maßlose Untertreibung. Sie hatte den Chiemsee umrundet, war in ein Bergtal gefahren und – als ihr Navi plötzlich aussetzte – sogar kurzzeitig in Österreich gelandet. In der Nähe von Aschau hatte sie schließlich das Örtchen Lindenmoos gefunden. Und nach einigem Herumirren auch die Pension und damit ihr Zuhause für die nächsten Wochen.

Emilia beugte den Kopf über das Lenkrad und warf einen skeptischen Blick durch die Windschutzscheibe. Das Haus sah genauso aus, wie sie sich eine bayrische Pension vorstellte. Weiße Wände und dunkles Holz. Vor den Sprossenfenstern im Erdgeschoss und der verwitterten Loggia im ersten Stock hingen Blumenkästen, die vor knallroten Geranien nur so überquollen. Links neben der Tür stand eine Bank, die aus groben Stämmen gezimmert war. Nicht einmal die Fensterläden mit ihren ausgesägten Herzen in der Mitte wagten es, den Klischees zu widersprechen. Die Unterkunft hätte in jeden Heimatfilm gepasst.

Gegenüber dem Haus fiel das Gelände zunächst sanft und dann steil ab. Über die Wiese hinweg öffnete sich das Tal und gab den Blick auf den Chiemsee frei. Zugegeben, diese Aussicht ließ Emilias Atem stocken. Eingeschlossen von den Bergketten der Alpen lag der See vor ihr und funkelte in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Eine angemessene Entschädigung für die nicht enden wollende Fahrt und das Herumirren im Chiemgau.

Emilia stieg aus und atmete tief durch. Die Luft war klar und kühl. Anders als an der Küste, aber angenehm. Die Sonne, ein Meer von Rosa, Orange und Flieder, schickte ihre letzten wärmenden Strahlen über die Bergkuppen. Magisch von dem Schauspiel angezogen, trat sie auf die Wiese. Vor ihr stand eine kleine Sitzecke, bestehend aus zwei ebenfalls roh gezimmerten Bänken und einem Tisch. Sie legte ihre Hände auf das warme Holz einer Banklehne, die tröstlich an das Treppengeländer ihres Mietshauses in Bremen erinnerte, und genoss den stillen Moment. Wenn sie die Entfernung zur nächsten Stadt ausblendete, befand sie sich an einem wirklich fantastischen Fleckchen Erde.

Die Sonne war schon fast untergegangen, als sie hörte, wie sich hinter ihr die Tür öffnete. Fußtritte knirschten auf dem Kies, und eine Frau stellte sich neben sie. »Wunderschön, nicht wahr?«, murmelte sie.

Emilia wandte sich zu ihr um. Sie war etwa in ihrem Alter, trug eine Flechtfrisur, ein bezauberndes Dirndl und Gummistiefel mit einem angesagten Blümchenmuster. Ob das Dirndl modern war, vermochte Emilia nicht zu sagen, aber von Regenbekleidung hatte sie als Nordlicht mehr Ahnung, als ihr manchmal lieb war.

»Sie müssen Dr. Jonasson sein. Meine Tante hat Sie bereits angekündigt. Herzlich willkommen auf dem Kastanienhof. Ich bin Theresa Leitner und hoffe, wir können es Ihnen hier so angenehm wie möglich machen, bis Sie Ihre Wohnung beziehen.«

Emilia schüttelte die Hand, die die Frau ihr reichte. Frau Leitner war ihr auf Anhieb sympathisch, und die Geste war warm und...