Windstärke Liebe - Roman

von: Jana Lukas

Heyne, 2019

ISBN: 9783641219550 , 400 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 9,99 EUR

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Windstärke Liebe - Roman


 

1

Fünf Stunden zuvor

Clara stand reglos im Flur ihrer WG. Ihr Herz hämmerte im gleichen Rhythmus wie der Deep-House-Sound aus dem Zimmer ihres Maschinenbau studierenden Mitbewohners Adrian. Ihre Gedanken hingen in einer Nebelwolke fest. Gut möglich, dass die illegalen Substanzen, die ihr zweiter Mitbewohner Torben, ein frischgebackener Sozialpädagoge, gerade zu konsumieren schien, nicht ganz unschuldig daran waren. Die Hauptursache gründete aber in dem Anruf, den sie soeben erhalten hatte. Ein Telefonat, das sie gefürchtet hatte. Von dem sie gehofft hatte, es noch viele Jahre lang nicht führen zu müssen. Charlotte, ihre wunderbare Großmutter … Seit dem Tod von Claras Mutter vor sieben Jahren rissen ihr Nachrichten wie die, die sie gerade erhalten hatte, den Boden unter den Füßen weg. Gegen die Angst, die ihr den Hals zuschnürte, kam sie einfach nicht an.

Es klingelte an der Tür. Clara hob den Blick vom zerschundenen Linoleumboden und betrachtete das schief hängende Garderobenbrett. Ashley, die einzige Frau, die außer ihr hier wohnte, eine Verkäuferin in einem von Stuttgarts angesagtesten Klamottenläden, lag Adrian regelmäßig in den Ohren, das Möbelstück ordentlich an die Wand zu schrauben. Es war bereits zweimal unter ihrer Sammlung farbenfroher Mäntel zusammengebrochen.

Das Türklingeln steigerte sich zu einem verärgerten Stakkato. Doch Clara konnte sich nicht bewegen. Ihr Blick wanderte weiter zum Flurspiegel, dessen obere Ecke blind war. Ein Spinnennetz aus geborstenem Glas in seiner Mitte zeugte von einer besonders wilden Party aus der Zeit, bevor Clara hier eingezogen war. Er hing an der vergilbten Wand wie ein stolzes Artefakt aus einer anderen Epoche.

Das Klingeln verstummte. Noch bevor Clara erleichtert aufatmen konnte, wurde es von einer penetranten Faust ersetzt, die gegen das spröde Holz mit dem Anti-Stuttgart 21-Aufkleber schlug.

»Mach doch endlich die verdammte Tür auf, Alter«, schrie Torben aus seinem Zimmer.

Clara zuckte zusammen. Ich bin nicht dein Alter, dachte sie, wie jedes Mal, wenn er diese Formulierung benutzte. Aber immerhin hatte sein Brüllen sie aus ihrer Erstarrung befreit. Sie überwand die zwei Schritte, die sie von der Tür trennten, und riss sie auf. »Lena!« Pure Erleichterung durchfuhr sie beim Anblick ihrer älteren Schwester. Was durchaus nicht häufig geschah. »Gott sei Dank! Du bist hier!« Clara presste die Hand, mit der sie noch immer ihr Handy umklammert hielt, gegen ihr wild klopfendes Herz, als könne sie so verhindern, dass es ihr vor lauter Panik aus der Brust sprang. »Hast du auch einen Anruf bekommen?«

»Was für einen Anruf?« Ihre Schwester zog auf ihre leicht überhebliche Art die Nase kraus und schnüffelte an Clara vorbei. »Sag mal, kiffst du neuerdings?«

»Was? Nein! Das ist der Sozialpädagoge«, ging Clara automatisch in Verteidigungshaltung. Sie trat einen Schritt in den schäbigen Hausflur hinaus und lehnte die Tür an, um ihrer Schwester den Blick in die noch schäbigere Wohnung zu versperren.

»Dann schmeiß den Typen raus. Ich will nicht, dass wir Ärger mit dem Jugendamt bekommen, wenn Sophie hier ist.«

Als ob ich irgendjemanden rauswerfen könnte, dachte Clara bitter. »Sophie ist nie hier«, korrigierte sie Lena.

»Ab jetzt schon.« Ihre ältere Schwester trat einen Schritt zur Seite, und erst jetzt wurde Clara bewusst, dass sie nicht allein waren. Hinter Lena standen ihre kleine Schwester Sophie und Lenas Lebensgefährte Benedikt. Er ignorierte sowohl Clara als auch Sophie und betrachtete stattdessen seine sauber manikürten Fingernägel. Benedikt war ein Arsch. Und ein Snob. Überheblich und selbstverliebt. Was ihn automatisch zum perfekten Partner für ihre Schwester machte.

Benedikt tippte ungeduldig mit der Schuhspitze auf den Boden. »Das Taxi wartet«, erinnerte er Lena leise daran, dass sie es offenbar eilig hatten.

Clara interessierte sich nicht dafür. »Hey Süße«, sagte sie und trat auf ihre Schwester Sophie zu, die automatisch einen Schritt zurückwich, um zu verhindern, dass Clara sie umarmte. Was dazu führte, dass sich Claras Herz schon wieder schmerzhaft zusammenzog. Mühsam schluckte sie an dem Kloß vorbei, der in ihrem Hals festsaß.

Und dann entdeckte sie den riesigen schwarzen Koffer mit dem Totenkopf aus Strasssteinchen, den jemand in den fünften Stock geschleppt hatte. Er lehnte neben der Todesverachtung ausstrahlenden Sophie an der Wand.

Im Stockwerk unter ihnen wurde eine Tür geöffnet und nicht wieder geschlossen. Na super, Frau Hallhuber gab sich die Ehre. Die Kehrwochenhexe, wie Clara sie insgeheim nannte, konnte nur eine Sache besser als das Überprüfen, ob man das Treppenhaus sauber geputzt hatte: nämlich ihre Nachbarn belauschen. Doch auch sie würde Clara nicht dazu bringen, das Gespräch in der verwahrlosten Wohnung fortzuführen, in der sie hauste. Ihr Zimmer war zwar sauber, aber so winzig, dass vier Personen und ein riesiger Koffer keinesfalls gleichzeitig hineinpassten. »Was soll das?«, fragte Clara mit einem Blick auf das schwarze Ungetüm. Es war ihr egal, wer etwas sagte. Sie wollte so schnell wie möglich eine Antwort, damit sie sich wieder auf die Sorge um ihre Großmutter konzentrieren konnte.

»Wir sind auf dem Weg zum Flughaften, wir fliegen doch heute auf die Malediven«, erklärte Lena. Sie hob den Arm und warf einen Blick auf die funkelnde Uhr an ihrem Handgelenk. »Und wir müssen jetzt los, wenn wir unseren Flieger nicht verpassen wollen. Sophie verbringt den Sommer mit dir.«

»Aber …« Clara zwang das Karussell in ihrem Kopf für einen Moment zum Stillstand. »Ihr wolltet zusammen mit Sophie fliegen. Die Ferien haben doch gerade erst begonnen.«

»Wir haben es uns anders überlegt. Wir wollen schließlich Benedikts vierzigsten Geburtstag feiern. Das passt nicht ganz zu einem Kinderferienprogramm. Jedenfalls konnten wir Sophies Ticket in ein Upgrade tauschen.«

Clara blickte zu ihrer jüngeren Schwester hinüber. Das Grufti-Outfit, das sie neuerdings trug, täuschte nicht darüber hinweg, dass sie erst vierzehn Jahre alt war. Sophie presste ihre schwarz angemalten Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Ihre dick mit Kajal umrandeten Augen starrten über der Tür an die Decke. Genau dorthin, wo das Spinnennetz hing, das schon vor Wochen von seiner Bewohnerin verlassen worden war. Nichtsdestotrotz hatte sich vor zwei Tagen eine Fliege in die Falle verirrt und war ihrem Schicksal erlegen. Wahrscheinlich fühlte Sophie sich gerade nicht anders als das Insekt. Die Einsamkeit hinter Sophies finsterem Blick brach Clara das Herz. »Du hast das Ticket unserer Schwester gegen die erste Klasse getauscht?« Fassungslos starrte sie in Lenas kühles, emotionsloses Gesicht. Der kinnlange, karottenrote Bob saß perfekt. Nicht ein Härchen traute sich, aus der Reihe zu tanzen. Genau wie das schlichte, aber mit Sicherheit sündhaft teure Sommerkleid es niemals wagen würde, eine Falte zu werfen. Nicht bei Lena.

»Businessklasse«, verbesserte Sophie in dem für sie so typisch sarkastischen Tonfall. »Mehr haben sie für mich nicht bekommen.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und bedachte sowohl Lena als auch Clara mit einem feindseligen Blick.

Lena ignorierte den Einwurf. »Ich hatte sie fast im Ferienprogramm des Internats untergebracht, aber dann hat sie es geschafft, von der Schule zu fliegen. Jetzt ist sie dein Problem.«

»Du bist von der Schule geflogen?« Clara fuhr zu Sophie herum. Sie hatte das Internat von Anfang an für keine gute Idee gehalten. Mit diesem Rauswurf war das die zweite Schule innerhalb eines Schuljahres. »Wie konnte das passieren?«

»Das kann sie dir dann in Ruhe erzählen. Ihr habt ja jetzt Zeit genug dafür.«

Zeit genug, dachte Clara. Sie schob sich die Locken aus dem Gesicht und hielt sie mit einer Hand auf dem Kopf fest. Sie würde gar keine Zeit haben, weil sie innerhalb der nächsten sechs Wochen eine neue Schule für Sophie finden musste. Sechs Wochen, von denen sich Lena zwei verdrücken würde. Erst jetzt wurde Clara bewusst, dass Lena gar nicht hier war, weil sie sich Sorgen um ihre Großmutter machte. Sie wollte ihre kleine Schwester, für die Lena das Sorgerecht hatte, bei ihr abladen.

Sophie stieß mit den Stahlkappen ihrer Doc Martins gegen die Wand, was den losen Putz nur so rieseln ließ. Wohl dem, der diese Woche mit der Kehrwoche dran war. »Ich habe ihr gesagt, dass ich allein zu Hause bleiben kann …«, brummte sie.

»Kannst du nicht!«, fuhren Clara und Lena sie gleichzeitig an. Offenbar der einzige Punkt, in dem sie sich einig waren.

»Können wir jetzt endlich?« Benedikt legte seine gepflegte Hand auf das Geländer, das ebenso heruntergekommen war wie der Rest des Treppenhauses. Vielleicht bohrte er sich so einen Splitter in die Haut. Einen, der nur chirurgisch wieder entfernt werden konnte. Oder noch besser: der festsitzen und sich entzünden und am Ende eine dicke Eiterbeule bilden würde. Clara schüttelte innerlich über sich selbst den Kopf. Seit wann war sie so bösartig? Sie hielt Lena am Arm zurück, die sich ebenfalls der Treppe zuwandte. »Du hast das mit Charlotte nicht gehört?«, fragte sie ihre Schwester leise.

»Was soll ich gehört haben?« Lena schien sichtlich genervt, dass sie noch immer nicht auf dem Weg zum Taxi waren. Sophie hingegen hob schlagartig den Blick und fixierte Clara mit ihrer finsteren Miene. Sie sagte nichts, aber sie hörte jedes Wort, das Clara sagte.

»Eine Freundin hat sie gefunden. Bewusstlos in ihrem Haus.« Clara hob ihr Handy hoch, als könnte es ihre Aussage bestätigen. »Sie ist auf dem Weg in die Klinik. Im Moment weiß noch niemand, was passiert ist.«

Für einen Moment...