Die Traummeister

Die Traummeister

von: Tom Jacuba

beBEYOND, 2021

ISBN: 9783751703413 , 498 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 6,99 EUR

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Die Traummeister


 

2


Eine Gestalt in Blau, schmal und mit dunkelrotem Haar, so stand sie im Steilhang: Algyra. Der Saum ihres Kleides und ihre langen Locken flatterten im Südwind. Wie Perlen glänzten ihre Zähne im Abendlicht, wie Feuerstein ihre Haut.

Algyra sang – oder versuchte es wenigstens.

Den Kopf hatte sie in den Nacken gelegt, den Mund weit geöffnet, und es sah aus, als würde sie zum lodernden Abendhimmel hinauf lachen. Nicht weit unter ihr stürzten sich die Fluten des Gletscherstroms fünfzig Schritte tief hinunter in einen brodelnden Wall aus Gischt, Schaum und sich aufbäumendem Wasser, zerflossen dahinter zu einem kleinen See und strömten dann ruhiger dem Meer entgegen. Rechts und links des Stromufers dehnte sich der Strand aus, und gut zehn Steinwürfe weiter südlich, zu beiden Seiten der Strommündung, schäumte die Brandung.

Algyra ruderte mit den Armen, als wollte sie das Andrängen der Wassermassen dirigieren, den Sturz des Gletscherstroms über die Felskante und das immer gleiche Kommen und Gehen der Brandung. Sie sang, während sie dirigierte; oder nein: Sie schrie gegen das Tosen des Wasserfalls an; sie brüllte ihr Lied in die Gischt und die donnernden Fluten hinab.

Ein Lied von Liebeszauber und Liebeslust. Es klang schräg, aber kraftvoll und wild. Zu diesem Zeitpunkt gab es schon kein Ausweichen mehr für den Harfenspieler – Algyra hatte beschlossen ihn zu verführen. Ombaryon hätte sich schon in einer Gletscherspalte zwischen den Eisgipfeln im Inneren der Insel verstecken müssen, um Algyra noch entgehen zu können.

Sie schrie und jubelte und warf die Arme hoch wie eine Triumphierende und dachte sich nichts, als sie fern auf dem Meer die Nebelbänke sah. Keiner, der an der Küste wohnte und den Nebel aufsteigen sah, dachte sich etwas. Nebel zog auf und verbarg die Küsten der Luxineninsel vor den Augen fremder Seefahrer – na und?

Über dem Nebel verschwamm bereits die untere Hälfte der Abendsonnenscheibe in einem milchig roten Himmel, und wenn der Wind sich einen Atemzug lang legte und das Tosen des Wasserfalls nicht ganz so laut bis hier herauf trug, konnte Algyra auch die Stimmen anderer Abendsänger von den Serpentinen, Türmen und Kuppeln in den Berghängen hören.

Sie sangen gern auf Aysalux, und am liebsten besangen sie die Sonne, wenn sie unterging. Nur die Sonne, wenn sie aufging, besangen sie noch lieber.

Algyra sang und trank das letzte Licht der über Nebel und Horizont flammenden Abendsonnenkugel; sie liebte das Licht, sie brauchte das Licht. In seinem roten Geflimmer glaubte sie, die schöne Gestalt des Harfenspielers zu erkennen – so tief hatte Ombaryons Bild sich bereits in ihrem sehnsüchtigen Geist eingenistet – und ihr Entschluss, ihn zu verführen, erfüllte sie mit wilder Vorfreude; die Vorfreude machte sie ungeduldig, und die Ungeduld trieb sie nach Hause.

Sie sparte sich also die letzte Strophe ihres Liebeszauberlustliedes für später auf, für die Stunde, wenn er in ihren Armen liegen würde, wandte sich von Meer und Abendhimmel ab – und vom aufsteigenden Nebel – und kletterte hinauf zum Serpentinenpfad und auf ihm bis zum Felskamm. Von dort lief sie hinunter zum Plateau, auf dem ihr Wassergarten lag.

Es hatte etwas vom Galopp eines wilden Pferdes, wie sie da den Hang hinunter und auf die Steinbogenbrücke über den Gletscherstrom stürmte. Von der Brücke aus waren es kaum noch hundert Schritte bis zu ihrem Wassergarten. Algyra bewegte sich kraftvoll und trat auf wie eine, die immer schon da war und immer da sein wird.

Hinter der mannshohen Gartenhecke quoll an manchen Stellen Dampf in den Himmel. Das Efeuportal im grünen Geäst öffnete sich, ohne dass sie es berührte. Sofort begannen auf dem Wiesenhang vor ihrem Haus die Gänse zu schnattern, und an den Teichufern und im Schilf quakten die Frösche.

So ging das immer, wenn Algyra nach Hause zurückkehrte, selbst wenn sie nur einen Tag unterwegs gewesen war: Nach den Gänsen und Fröschen begrüßten sie die Seeschwalben und Wasseramseln und flatterten tschilpend auf; danach brummte der Rohrdommelhahn im Schilf, und zum Schluss stießen die Fische aus den Teichen, Becken und Seen, beschrieben große oder kleine Bögen und klatschten zurück ins Wasser.

»Ja, ja!«, lachte Algyra. »Ja, ich bin wieder da!«

Sie trat unter den Torbogen und blickte zurück zu den Berghängen über dem Strand und der Brandung. Noch wanderte keiner auf den Serpentinen von den Kuppeln und Türmen dort oben zur Gletscherstrombrücke und zu ihrem Gartenplateau herab. Kein Harfenspieler weit und breit, schade.

Sie runzelte die Brauen und spitzte die Lippen. Und wenn er nun den Sänger dieses Mal nicht begleitete? Wenn Renyan, diese Nervensäge, dieses Mal allein kam? Doch gleich schüttelte sie den Kopf und verscheuchte den lästigen Gedanken. Natürlich würde Ombaryon kommen! Der selbstgekürte Meistersänger Renyan pflegte niemals ohne seinen Harfenisten aufzutreten. Wie wollte er denn ohne ihn seinen mäßigen Gesang kaschieren?

Dieser Gedanke überzeugte sie sofort, das Lächeln kehrte in ihre Miene zurück, sie trat in den Wassergarten. Ihr Haar glänzte rot auf, als die Abendsonne es anstrahlte, so rot, dass ein rötlicher Schein auf ihr weißes Gesicht fiel. Ein schönes Gesicht mit hoch gewölbter Stirn, tiefroten Brauenbögen über großen, hellgrünen Augen, einem schmalen, scharf geschnittenen Nasenrücken und feinen Nasenflügeln. Die Wangenknochen warfen Schatten auf Algyras Mundwinkel, und wenn sie ihre roten Lippen wie jetzt zu einem Lächeln verzog, bildeten sich Grübchen in ihren Wangen. Die kleinen Spitzohren verschwanden unter ihren Locken.

Besonders groß war Algyra nicht, aber niemand hätte sie jemals für eine kleine Frau halten oder gar übersehen können; und keiner auf Aysalux nannte den Namen einer anderen, wenn man ihn nach der schönsten Luxine der Insel fragte.

Unter der überhängenden Wand und dem Wasserfall hindurch lief sie in die feuchte Blumenwiese hinein. Sie zog ihre grauen Wildlederstiefel aus, warf sie achtlos ins Schilf, schritt barfuß durchs Sumpfdotterblumenfeld zur Sandbank und zum Kiesbett und sprang dort durch die Fontäne des warmen Geysirs auf den Felspfad hinüber. Der schlängelte sich in engen Windungen zu ihrem weißen, muschelförmigen Haus hinauf. Eine Dampfwolke waberte dort über der Terrasse.

Das blaue Baumwollkleid klebte nass an ihrem Hintern, an ihren Hüften und Brüsten – sie achtete nicht darauf, zog ein Rinnsal hinter sich her und trat in ihre »Denkhöhle«; so nannte sie den großen und annähernd runden Raum ihres Hauses, der an die Terrasse grenzte. Dessen Wände waren durchsichtig und Teil eines das ganze Haus durchziehenden Aquariums. Bunte Fischschwärme bewegten sich hinter dem Glas entlang. Zwei Wandspiegel in Muschelrahmen, jeder zwei Schritte hoch, waren rechts und links der Fensterfront zur Terrasse angebracht, ein Leuchter aus Bernstein hing von der Kuppeldecke, darunter lag ein dunkelblaues Kissen aus Fischleder. Ansonsten war der Raum leer.

Auf dem Kissen ließ Algyra sich nieder. Sie schrieb ein paar Worte an ihre Mutter, eine Wasserlache sammelte sich rund um das Polster. Rothaarsträhnen klebten auf ihren bleichen Wangen und in ihrer hohen Stirn. Seltsam ernst wurde ihre Miene, während sie nach einfachen Worten suchte und sie niederschrieb. Ihre Mutter brauchte das – einfache Worte, kurze, klare Sätze. Ihre Mutter, nun ja, ihre Mutter war krank. So jedenfalls nannte Algyras Vater, der König, Veda Venusyas Zustand: krank.

Später pfiff Algyra eine der Seeschwalben aus dem Wassergarten ins Haus, band ihr die Nachricht in einer Holzkapsel an die Kralle, flüsterte ihr zwei Worte zu – »Mutter« und »Eis« – und hieß sie fliegen. Der Vogel flatterte durch die Dampfwolke über der Terrasse, schwirrte in den Himmel und flog nach Norden. Algyra sah ihm so lange hinterher, bis seine schwarzen Flügelspitzen nicht mehr von den dunklen Flecken auf den Hängen der Schneegipfel zu unterscheiden waren.

In der heißen Wassergrotte im Kellergeschoss des Muschelhauses schälte sie sich aus dem nassen Kleid. Ihr Körper war weiß und drahtig, ihre Fußnägel sahen aus wie hellblauer Marmor, ihre Brüste wie die Blütenkelche von Orchideen, ihr Gesäß wie eine weiße Herzmuschel. Sie badete, ölte sich ein, schminkte und bürstete ihr rotes Haar.

Das Übliche eben vor dem Besuch von Luxinen, die sich für Männer hielten.

Männer.

Algyra legte strenge Maßstäbe an in dieser Hinsicht. Ein Mann: keine Maskerade, ein offener Blick, keine Scheu, kein Geschwätz. Er tut, was zu tun ist, und zwar gleich. Und natürlich ist er groß, und natürlich schmücken dicke Muskelstränge auf Schultern und Brust seinen Körper, und möglichst hat er einen kahlen Schädel, auf dem ein Flussdelta aus Adern sich abzeichnet. Und bitte nicht zu viel nachdenken.

Sie warf einen grauen Heringsschuppenmantel über ihre leuchtende Nacktheit und nahm Wein und Gebäck mit nach draußen. Im offenen Heckenportal leuchtete blutrot und orangefarben der Nebel über dem Ozean. Die Sonne war gesunken. In den beiden Weiden am Gartensee zirpten Zikaden, die Frösche grunzten liebestrunken, und das Gezwitscher der Wasseramseln klang müde.

Algyra streckte sich im Schilfufer am Karpfenteich aus, die Dämmerung brach an und bald glitt Fackelschein durch das offene Portal: Renyan trat in den Wassergarten, ein Luftluxin. Wie immer kam er zu früh. Algyra unterdrückte ein Gähnen.

Renyan winkte, blieb stehen und rief ihr schon vom Portal aus einen feierlichen Gruß zu, zwölf Zeilen, drei Strophen. Wahrscheinlich...