Palermo ist eine Zwiebel

Palermo ist eine Zwiebel

von: Roberto Alajmo

Verlag Klaus Wagenbach, 2021

ISBN: 9783803143129 , 176 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Palermo ist eine Zwiebel


 

Vorbemerkung:
Die Stadt verändert sich, Bücher werden alt


Was immer den Sizilianern widerfährt, sie werden es mit einem geistreichen Witz kommentieren.

Cicero

Jedes Buch sollte zumindest den Anspruch haben, für die Ewigkeit zu sein. Zumindest den Anspruch: das heißt, im Wissen, dass man für die Ewigkeit ohnehin nie erreichen kann. Man wird der Ewigkeit nicht einmal nahekommen können. Man sollte es trotzdem versuchen, und es lassen sich durchaus Bücher finden, die Zeugnisse dieser Sisyphusarbeit sind und Jahre, Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte überdauern. In aller Bescheidenheit kann ich sagen, dass die erste Version dieses Buches fast fünfzehn Jahre überdauert hat – immerhin. In diesem Zeitraum kam es zu mehreren Neuauflagen, und jedes Mal stellte sich die Frage, ob dem ursprünglichen Text irgendeine Änderung hinzugefügt werden sollte. Und bis jetzt war die Antwort stets ein stolzes Nein. Angesichts der Machart dieses Buchs war Ewigkeit sowieso unerreichbar, doch ein paar Kunstgriffe garantierten wenigstens einen geringfügigen Widerstand gegen das Vergehen der Zeit. Zum Beispiel: keine direkten Verweise auf ein Geschäft, ein Restaurant und ein Lokal, die naturgemäß früher oder später ihre Vergänglichkeit offenbaren.

Doch die Zeit steht nicht still, die Stadt verändert sich, Bücher werden alt. Auch dieses. Manche Seiten und ganze Kapitel der ersten Version, auf Deutsch: Palermo sehen und sterben, taugen heute nur noch als historische Dokumente, damit wir uns an frühere Zeiten erinnern können. In der Zwischenzeit haben sich sogar einige felsenfest scheinende Überzeugungen der Bewohner dieser Stadt gewandelt. Um ein Beispiel zu geben: Möglicherweise haben die Händler endlich die Vorstellung abgelegt, dass eine Fußgängerzone den Weltuntergang bedeuten würde, wie sie es immer gedacht haben. Das scheint nicht der Rede wert, aber man kann da schon von einer genetischen Veränderung sprechen, denn ihre Grundüberzeugung ist die, dass die Bewohner der Stadt nichts kaufen wollen, wenn sie nicht mit dem Auto bis vors Geschäft fahren können. So war es – und so ist es nun nicht mehr.

Daher sollte man auf die wiederkehrende Frage »Hat sich die Stadt verändert?« heute ehrlich mit Ja antworten. Es wäre auch seltsam, wenn es nicht so wäre, da sich im Lauf der letzten zwanzig Jahre auch der Rest der Welt verändert hat. Und weil das Wort Veränderung kein bloßes Synonym zu Verbesserung ist, ist die folgende Spezifizierung wichtig: Ja, in vielerlei Hinsicht hat sich die Stadt zum Besseren verändert. Ohne sich dabei zu Triumphgeheul hinreißen zu lassen, das passende Gegenstück zum hier allgegenwärtigen Defätismus, können wir sagen, dass wir heute wenigstens ein bisschen besser dastehen als vorher.

Gewiss: Man sollte unsere ewige Neigung zum sogenannten annacamento nicht unter den Tisch fallen lassen – immer, wenn man zwei Schritte nach vorn geht, tut man auch einen zurück, einen nach rechts und einen nach links, wodurch die Bewegung nur bedingt einem tatsächlichen Vorankommen entspricht. Doch solche Formen des annacare liegen in unserer Natur. Die Geschichte – und insbesondere die sizilianische – war nie einfach eine Autobahn, auf der man schnurgerade in eine Richtung rasen konnte, die – unsere – Geschichte gleicht eher einem gewundenen Wald- und Feldweg mit häufigem Gegenverkehr, weswegen man ständig zurücksetzen muss und Gefahr läuft, die Böschung hinunterzurutschen. In manchen Momenten hat man geradezu das Gefühl, sich verfahren zu haben, aber nein: Es stimmt schon, das ist die richtige Richtung.

Wir reden hier über eine Stadt, die einen alles andere als stabilen Charakter hat. Gerade das Unruhige und Ungelöste machen ihre Faszination aus. Es wäre unnütz, von ihr zu verlangen, sie solle anderen Städten ähneln, deren Schönheit gefestigt, geordnet und angenehm ist. Es fragt doch auch niemand, ob Venedig sich verändert habe, weil das Problem sich nicht stellt. Man kehrt nach zwanzig Jahren dorthin zurück, und Venedig ist immer noch mehr oder weniger die gleiche Stadt, unbeweglich, weil schon perfekt. Unsere Stadt wird nie so sein. Sie kann sich noch verbessern, Spielraum dafür gibt es jedenfalls reichlich, aber eine Gewissheit besteht schon jetzt: Perfekt wird sie nie sein. In ihrem Webmuster wird es immer einen Fehler geben, in der wärmsten Tönung wird man immer noch wenigstens einen dunklen Fleck finden. Wir sollten darüber nicht zu glücklich sein (paradoxerweise besteht diese Gefahr), aber auch nicht über die Maßen deprimiert. Wir sollten uns lieber bewusstmachen, dass wir wie gewisse Käsesorten sind, die sich den von der Europäischen Union vorgeschriebenen Hygieneregeln entziehen, weil ihr Geschmack gerade von dieser unnennbaren Zutat herrührt, die nur in sehr geringer Menge benutzt werden sollte. Eine Zutat namens gràscia, was Schmierigkeit in der Fett-Variante bedeutet. Sie ist unnachahmlich und unabdingbar, wenn man die Natur des Käses nicht verunstalten und den Geschmack jedes authentischen Tumazza-Käses zu dem eines gemeinen Supermarkt-Galbanino degradieren will.

Im Lichte der identifizierten Veränderungen ließ sich eine Neufassung dieses Buchs nicht weiter aufschieben. Allein schon aus Sorgfaltspflicht gegenüber dem ursprünglichen Empfänger dieser Seiten: dem anonymen Reisenden, der sich, von all seinen Vorurteilen gehemmt, in seinem Hotelzimmer verbarrikadiert hat – aus Angst, dass er seine Vorurteile alle einzeln mit der Realität abgleichen muss. Dieses Buch ist aus dem Bedürfnis heraus entstanden, ihm Trost zu spenden. In dieser Stadt spürt man eine weitverbreitete moralische Verpflichtung, die lieben Fremden, die uns besuchen, zu begleiten. Wir sehen es aus Gründen, die sich unserem eigenen Verständnis entziehen, als unsere Pflicht an. Das Gefühl eines abwehrenden Stolzes, den die Bewohner der Stadt kultivieren, grenzt auf mysteriöse Weise an ein Schuldgefühl. Wir wissen, dass wir es mit einer Stadt zu tun haben, die gleichzeitig Dr. Jekyll und Mr. Hyde sein kann. Die in der Lage ist, aus jedem Kuss einen Biss werden zu lassen, und zwar immer mit denselben Lippen. Zart und grausam ist sie, diese Stadt. Sie ist schnell verletzt und zieht sich auf ihre eigenen Fehler zurück. In gewissen Momenten ist sie kurz davor zu ertrinken, du eilst ihr zu Hilfe, und sie reißt dich mit in den Abgrund. Tatendrang und Abstoßung sind übliche und zweischneidige Instinkte all derjenigen, die mit diesem Ort zu tun haben.

Lieber widerwilliger Reisender, denk erst gar nicht daran, dich zu drücken. Auch du bist ein Klischee. Der jüngste Abkömmling eines illustren Geschlechts, das vielleicht mit Goethe begann, der Sizilien einige Jahre nach Erscheinen der ersten Auflage der Encyclopédie besuchte, dem Grundstein der Aufklärung. In diesem Buch liest man über die Hauptstadt Siziliens die folgende Definition: »Antike Stadt, die von einem Erdbeben zerstört wurde«. Soviel dazu, wie schwer Vorurteile allen guten Absichten zum Trotz wiegen können.

Als Prototyp des Reisenden in partibus infidelium ließ Goethe sich von vielen Dingen überraschen, die auch dich überraschen werden. Dir wird zum Beispiel auffallen, dass die Stadt dazu neigt, ziemlich dreckig zu sein. Je nach Jahreszeit sogar sehr dreckig. Eine Szene ist oft zitiert worden: wie der deutsche Schriftsteller einen Bewohner unserer Stadt für die Müllschicht, die die Straßen pflasterte, zur Rechenschaft ziehen wollte. Er war entrüstet, wie normal man es fand, den Abfall direkt auf die Straße zu werfen. Der Einheimische antwortete, die Müllschicht diene dazu, die vorüberfahrenden Kutschen der Aristokratie so abzufedern, dass die adligen Lenden nicht unter der Unebenheit des Straßenbelags leiden müssten. Goethe verstand diesen Sinn für Humor nicht und regte sich auf, obwohl er einer typisch sizilianischen Art der Entdramatisierung begegnet war. Über sich selbst zu lachen ist eine der Tugenden, die in Sizilien so lange gepflegt werden, bis sie zur Untugend werden. So entsteht ein System, das vor Empörung schützt. Ein großer Sizilianer, Enzo Sellerio, verteidigte sich auf gleiche Weise gegen einen Journalisten, der ihn fragte, wie er in einer Stadt leben könne, die vor Müll überquelle. Sellerio antwortete ihm:

»Ich lebe nicht in dieser Stadt, ich lebe bei mir zu Hause.«

Darauf kommen wir später noch mal zurück. Doch, lieber Reisender, du solltest bis dahin lernen, diese Prise Sarkasmus wiederzuerkennen. Dieser Sarkasmus wird oft gebraucht, um die Klischees zu verjagen, auch wenn wir selbst diese Klischees dann wieder nähren. Es wird einem bei der Lektüre von Goethes Reisetagebuch außerdem gar nicht klar, ob ihm unsere Stadt nun gefallen hat oder nicht – oder ob ihm wenigstens ihre Bewohner gefielen. Nicht, dass wir bedingungslose Wertschätzung erwarten würden, wir wissen ja, dass diese Gegend voll konfliktreicher Liebe ist. Es hat den Anschein, dass diese Stadt ihm nicht griechisch genug vorkam. Wenigstens nicht getreu der Idee von Griechenland, die Goethe auf seiner Reise in diese Breiten suchte. Aber mal ehrlich: Wir, die Einwohner dieser Ecke Siziliens, sind wirklich nicht besonders griechisch. Wir sind punisch, wir sind arabisch, wir sind normannisch. Wir sind ein Smoothie aus Ethnien und Kulturen, in dem das Griechische eine zweitrangige Zutat ist. Oder vielleicht haben wir vom Griechischen nicht gerade die apollinische Komponente aufgesogen, die Goethe am meisten zu schätzen schien. Apollinisch sind wir mit Sicherheit nicht: dionysisch, möglicherweise. Doch was Goethe auf seinem Weg an Dionysischem begegnete, tat er als unecht ab....