Für einen Umweltschutz der 99% - Eine historische Spurensuche

Für einen Umweltschutz der 99% - Eine historische Spurensuche

von: Milo Probst

Edition Nautilus, 2021

ISBN: 9783960542674 , 200 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 12,99 EUR

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Für einen Umweltschutz der 99% - Eine historische Spurensuche


 

Vorwort. Bisswunde im Orchideenhügel


Wer über die Hauptstraße von Osten her ins waadtländische Dorf Eclépens einfährt, wird von den grauen Gebäuden und Förderbändern eines Zementwerks in Empfang genommen. Die Silos gleichen Wachtürmen, die den Mormont-Hügel in ihrem Rücken wie eine Beute behüten. Von hier aus ist nur schwer zu erahnen, was sich hinter dieser Fabrik abspielt. Die riesige Aufschrift »Ihr regionaler Partner für nachhaltiges Bauen«, die die Blicke unwillkürlich auf sich zieht, soll die Neugier stillen. Um mehr zu verstehen, müssen wir uns diesem Zementwerk von der anderen Seite des Hügels nähern. Dies ist nicht nur ein geografischer Positionswechsel. Indem wir den Mormont-Hügel umrunden und von der uns abgewandten Westseite hochsteigen, unternehmen wir auch eine Reise in andere Zeiten. Wir können abschätzen, wie dieser Hügel aussah, bevor er eine Beute des Bauhungers wurde. Wir begreifen, dass der gesamte Hügel aufgefressen werden könnte, wenn die Gier des Zementunternehmens nicht gestoppt wird. Und wir erahnen, wie dieser Hügel – und vielleicht andere Stücke dieser Erde – künftig auch noch belebt werden könnten.

Vom Dorf La Sallaz auf der Westseite des Hügels führt ein Weg auf die Anhöhe. Hinter uns liegen die schneebedeckten Flanken der Jurakette. Nach einigen hundert Metern stellt sich uns ein Bogen der ganz besonderen Art in den Weg. Zwei aus Paletten und anderem Restholz gebaute Türme sind mit einer hölzernen Brücke verbunden. Darunter versperrt ein Tor den Durchgang. Ein weißes Transparent mit farbiger Bemalung nennt uns den Ort, den wir sogleich betreten werden: ZAD de la Colline. Wir sind in der ersten Zone à défendre der Schweiz.

Solche Schutzzonen, eine Form des ökologischen Widerstandes, sind zuerst in Frankreich entstanden. Die wohl berühmteste ZAD, jene von Notre-Dame-des-Landes, wurde 2018 geräumt, nachdem die Aktivist*innen nach einem langjährigen Widerstand und dank einer Allianz mit Anwohner*innen, Landwirt*innen und Gewerkschafter*innen ein Flughafenprojekt verhindern konnten. Mit der seit Oktober 2020 bestehenden ZAD auf dem Mormont-Hügel wehren sich die Umweltschützer*innen gegen den Ausbau eines Steinbruchs durch ein Zementunternehmen. Ein artenreiches Ökosystem ist dadurch bedroht. Ihr Kampf hat aber auch eine globale Dimension, denn die Zementproduktion ist für 8% der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Nur wenig verdeutlicht die kapitalistische Lebensfeindlichkeit besser als die Flächenversiegelung durch Einkaufszentren und Autobahnen oder das Zumauern von Grenzen.

Nachdem uns das Tor geöffnet wurde und wir hindurchschreiten, fällt mir der Stacheldrahtkringel auf, der an der gesamten oberen Seite des Bogens befestigt ist. Hier aber markiert dieser Draht weder Privateigentum noch eine Landesgrenze. Beim Durchschreiten des Tors betreten wir vielmehr das Jenseits einer Welt des Eigentums.

Die Zweckentfremdung des Stacheldrahtes ist eine, die uns auf dem Gelände der ZAD immer wieder begegnen wird. Wir betreten eine Welt, in der Holzpaletten Barrikaden bilden, halbierte PVC-Rohre als Dachrinnen funktionieren, gewöhnliche Hausfenster Licht in Baumhäuser hineinlassen. Und doch scheint hier vieles an seinem Platz. Grund dafür ist nicht nur, dass hier die Lebensdauer von Abfällen aus einer verschwenderischen Gesellschaft verlängert wird. Vor allem verstehe ich, dass Dinge anders angeordnet werden können; dass sich ihre Funktion nicht nur in dem erschöpft, was in Produktbeschreibungen und Gebrauchsanweisungen vorgegeben wird. Hier sind es nicht tote Dinge, die den Menschen ein bestimmtes Verhalten vorschreiben. Hier sind es Menschen, die mithilfe von Dingen andere Beziehungen leben. Wir können uns aus dem Bestehenden eine andere Welt zimmern.

Ich verlasse die Gruppe, mit der ich angereist bin, und schaue mich alleine um. Auf von Bäumen gesäumten Wiesen stehen verstreut einige Zelte und Jurten, wie auf einem Campingplatz außerhalb der Urlaubssaison. Überall sind Menschen beschäftigt. Für einen abgeschirmten Ort, in den man nur durch ein bewachtes Tor gelangt, bleibe ich erstaunlich unbeachtet. Durch Blickkontakt und freundliche Grüße möchte ich meine Anwesenheit irgendwie rechtfertigen, die Bestätigung bekommen, dass ich willkommen bin. Doch diese Bestätigung kam mir bereits zuteil, als ich das Tor durchschritt. Jetzt darf ich hier sein. Aber ich bin noch nicht ins zwischenmenschliche Beziehungsnetz eingebunden. Als kurzer Besucher eines einzigen Nachmittags bleibt mir dieser Einbezug verwehrt. Ich verspüre die für Besetzungen übliche Mischung aus bedingungsloser Gastfreundschaft und sorgfältigem Misstrauen, das einem vor allem dann begegnet, wenn man mit seiner Anwesenheit oder seinen Fragen allzu ungestüm in die Intimität der Bewohnenden eindringt.

Zum Zentrum der Besetzung führt ein von den Besetzer*innen angelegter Weg. Ein Schild erklärt, weshalb von den Besucher*innen die Disziplin erwartet wird, auf den Wegen zu gehen: Die an diesem Ort wachsenden Orchideen müssen geschützt werden. Auf dem gesamten Gelände sind Orchideenpflanzen mit kleinen dreieckigen roten Fähnchen einzeln markiert. Einigen Orchideen wurde sogar ein rotes Grablicht zur Seite gestellt. Wieder eine dieser wunderbaren Zweckentfremdungen. Fahnen sind hier nicht dazu da, ein Territorium in Besitz zu nehmen, das dann von den Eigentümern nach Belieben benutzt und je nach Laune auch zerstört werden kann. Hier dienen sie dazu, dem nicht-menschlichen Leben einen Schutzraum zu geben. Die Umweltschützer*innen haben das Territorium der Pflanzen abgesteckt. Sie sind die zärtlichen Verbündeten der Pflanzen, weil sie in der Symbolsprache der Menschen für die Orchideen einen Raum der Autonomie einfordern.

Den topografischen Höhepunkt der ZAD bildet ein Aussichtsturm. Von hier aus lässt sich die dem Hügel zugefügte Bisswunde überblicken. Eine U-förmige Schlucht legt das Fleisch des Hügels, einen braunen Kalkstein, offen. Die Zähne des Gebisses bestehen aus roten Röhren, die in den Boden eingelassen sind. In sie wird Sprengstoff gefüllt, um den Hügel ein Stück weiter anzufressen. Seit Jahren trachten die Werksbetreiber nach der Ausdehnung dieses Beutestücks, um ihren und den Hunger anderer – jenen der Bauindustrie und Immobilienbranche – zu stillen. Ein Einspruch von Umweltschützer*innen wurde im Mai 2020 vom Kantonsgericht abgewiesen und liegt nun beim Bundesgericht.1

Über einen mit Gämsenkot besäten Weg schreiten wir zu dritt am Rand der Schlucht entlang. Über uns betonen die unbelaubten und fast schwarzen Flaumeichen, die unter den vergangenen Hitzewellen und ausgebliebenen Regenfällen sichtlich gelitten haben, den trostlosen Anblick dieser Grube.

Nun haben wir unseren Rundweg abgeschlossen. Wir sehen nicht nur von oben die im Tal liegende Rückseite des Werks, in das Lastwagen ein- und ausfahren. Wir haben auch einen Teil der sprichwörtlichen Kehrseite dessen gesehen, was uns anfänglich als »regionale und nachhaltige« unternehmerische Partnerschaft angepriesen worden war. Um weitere Rückseiten dieser Glanzfassade in den Blick zu bekommen, reichen unsere Füße nicht mehr aus. Andere Wege müssen wir im Geiste begehen. Wir müssen den Finanzströmen eines Konzerns folgen, die Verästelungen des Stammbaums einer Familiendynastie durchwandern.

LafargeHolcim heißt die Betreiberin dieses Zementwerks. 2015 fusionierten die zwei Giganten der Zementbranche Holcim und Lafarge zu einem Unternehmen, das 2019 26,7 Milliarden Schweizer Franken umsetzte. An diese unternehmerische Allianz lassen sich weitere Brücken ansetzen, mit deren Hilfe wir über unterschiedliche Zeiten und Orte hinwegschreiten können. Zunächst eine Verbindung nach Syrien: Zwischen 2011 und 2015 zahlte Lafarge 15 Millionen Dollar an in Syrien aktive Terrororganisationen, darunter der sogenannte Islamische Staat. Der Unternehmensvertreter, der diese Zahlungen beaufsichtigte, tauchte bei den französischen Gemeinderatswahlen von 2014 auf einer Liste des rechtsextremen Front National auf. Andere Stege können an dieser Stelle nur angedeutet werden. Sie führen in 34 Länder, vornehmlich des globalen Südens, in denen das Unternehmen einer Studie von Greenpeace zufolge für 122 Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Umweltverschmutzung verantwortlich ist.2 Nochmals andere Überführungen bringen uns in die Vergangenheit, wo wir auf die hinter Holcim steckende Familiendynastie stoßen, die etwa mit dem Südafrika der Apartheid Geschäfte machte. In der vierten Generation dieses Stammbaums treffen wir auf der einen Seite auf Thomas Schmidheiny, der weiterhin einen Anteil von ca. 7% an LafargeHolcim hält und dessen Vermögen von Forbes auf 4,8 Milliarden Dollar geschätzt wird. Er glaubt nicht mehr daran, dass sich das international vereinbarte Zweigradziel erreichen lässt.3 Auf der anderen Seite ist da Stephan Schmidheiny, langjähriger Inhaber des Asbestherstellers Eternit. In den 1980er Jahren profitierte er von...