LAUT - Warum Hate Speech echte Gewalt ist und wie wir sie stoppen können

LAUT - Warum Hate Speech echte Gewalt ist und wie wir sie stoppen können

von: Sawsan Chebli, Miriam Stein

Goldmann, 2023

ISBN: 9783641302306 , 240 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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LAUT - Warum Hate Speech echte Gewalt ist und wie wir sie stoppen können


 

KAPITEL 1


Zu jung, zu schön für eine Staatssekretärin

Sexismus: gegen Frauen

Facebook, 16. Oktober 2017. Ich schrieb:

Die Deutsch-Indische Gesellschaft e. V. hatte mich im Rahmen ihrer Jahreshauptversammlung 2017 eingeladen, ein Grußwort zu halten. Solche Termine gehörten zu meiner Arbeit als Staatssekretärin und machten mir normalerweise viel Freude – auch, weil ich meine außenpolitischen Kenntnisse und Netzwerke nutzen und den Kontakt zur internationalen Community pflegen und ausbauen konnte. Als ich ankam, saßen die Diskussionsteilnehmer:innen bereits auf der Tribüne. Für das Grußwort – also für meinen Part – stand links vom Publikum ein Pult bereit. Ich nahm zunächst auf dem mir zugewiesenen Platz in der ersten Reihe Platz und wartete. Nur erkannte mich der Gastgeber nicht und sagte:

»Da die Staatssekretärin nicht anwesend ist, müssen wir ohne sie anfangen.« Als ich auf mich aufmerksam machte, sagte er schließlich: »Ich hatte keine so junge Frau erwartet. Und dann sind Sie auch noch so schön.«

In solchen Momenten kommt es mir immer kurz so vor, als hätte ich mich verhört. Wie bitte?! Soll das heißen, junge Frauen können keine Politikerinnen sein? Bedeutet meine wie auch immer geartete Schönheit, dass ich nicht als seriöse Vertreterin meines Bundeslands erkannt werde? Haben Politikerinnen automatisch unattraktiv zu sein?

Stellte man sich im Jahr 2017 vor seinem geistigen Auge eine Politikerin vor, sah man vermutlich Angela Merkel, eine weiße Frau im Hosenanzug mit flachen Schuhen über fünfzig. Nichts gegen Angela Merkel. Im Gegenteil, ich habe großen Respekt für das, was sie als Frau in der CDU erreicht und auch für Deutschland geleistet hat. Ich war damals neununddreißig Jahre alt und galt als »jung« für eine Politikerin. Eine Frau wie ich konnte scheinbar in den Augen einiger vielleicht eine Aktivistin, aber keine Politikerin sein, weil ich unter dem Label »jung und schön« funktionierte. Ich war fassungslos, dass der Geschäftsführer der Deutsch-Indischen Gesellschaft diese Gedanken so offen und unverblümt aussprach. Dass er sich später für seine Bemerkung, die er interessanterweise selbst auch als sexistisch bezeichnete, entschuldigte, spricht für ihn, ändert nur nichts daran, dass ich in diesem Moment auf ein jahrhundertealtes, weibliches Klischee reduziert wurde: Die wichtigsten Qualitäten einer Frau sind ihr junges Alter und ihre Erscheinung. Nach der Veranstaltung machte ich meinem Ärger auf Facebook mit eingangs zitiertem Post Luft.

Ich war zu diesem Zeitpunkt relativ neu im Amt der Staatssekretärin und noch nicht lange aktiv in den sozialen Netzwerken. Erst 2016 hatte mich der damalige Regierende Bürgermeister Michael Müller berufen. Nachdem ich über den Vorfall auf der Jahreshauptversammlung der Deutsch-Indischen Gesellschaft geschrieben hatte, erlebte ich eine ungewollte Feuertaufe: meinen ersten Shitstorm. Der Duden definiert »Shitstorm« folgendermaßen: »Sturm der Entrüstung in einem Kommunikationsmedium des Internets, der zum Teil mit beleidigenden Äußerungen einhergeht«.

Die erste Welle des Sturms traf mich unvorbereitet und mit voller Wucht. Man sagte mir, ich würde mich »wichtigmachen« wollen, ich sei »überempfindlich«, solle »mich schämen« und »nach Hause gehen und Kinder hüten«. Ich sei »dünnhäutig«, solle mich »gefälligst über ein Kompliment freuen«, mich unterm »Kopftuch verkriechen und gut«. All diese Zitate sind die harmloseren Beschimpfungen. Von allen Seiten und in sämtlichen Medien hagelte es Kritik, Unverständnis und blinden Hass. Aber nicht nur das. Dieser Shitstorm war mehr als nur »Entrüstung«, die Definition des Dudens fasst das Ausmaß nicht. Der Digitalisierungsexperte Sascha Lobo versuchte sich erstmals 2010 in einem Vortrag auf der re:publica, einer Berliner Konferenz zur digitalen Gesellschaft, an einer Definition:

Ein Prozess, wo in einem kurzen Zeitraum eine subjektiv große Anzahl von kritischen Äußerungen getätigt wird, von denen sich zumindest ein Teil vom ursprünglichen Thema ablöst und stattdessen aggressiv, beleidigend, bedrohend oder anders attackierend geführt wird.1

Die Journalistin und ZDF-Korrespondentin Nicole Diekmann, Autorin des Buchs Die Shitstorm-Republik, sagte gegenüber dem Bayerischen Rundfunk: »Für mich ist ein Shitstorm ein gezielter Angriff auf jemanden – oder auch ein Unternehmen, das gibt es ja auch – , um Ärger zu provozieren, wo es überhaupt gar nicht um die Sache geht, sondern nur um blanken Hass. Um jemanden mundtot zu machen. Um jemanden zu diskreditieren.«2

Schwierig also, rein sprachlich den »Shitstorm« zu bändigen. Einig ist man sich in der Fatalität seiner Auswirkungen für die betroffene Person ohnehin, aber eben auch für die Gesellschaft. »Was können wir dem Hass entgegensetzen, der längst auch den Ton in unserem analogen Alltag vergiftet?«, fragt Diekmann weiter.3

Ich will es genauer wissen und verabrede mich mit Sascha Lobo per Videocall. Der Autor gilt als einer der führenden Expert:innen in Sachen Netzkultur, mit seiner Spiegel-Online-Kolumne »Die Mensch-Maschine« erreicht er Millionen Leser:innen. Sascha nahm soziale Medien schon ernst, als die meisten diese Netzwerke noch für eine Art öffentliche Klassenchats hielten. Er ist Autor zahlreicher Bücher und wurde 2005 als Mitbegründer des Blogs »Riesenmaschine« mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Am Tag unseres Calls erwische ich den gebürtigen Berliner zwischen zwei Terminen. Ich frage Sascha, wie er heute einen Shitstorm beschreiben würde. Einfacher geworden ist es nicht, aber differenzierter, sagt Lobo. Er unterscheidet mittlerweile in konstruktive und destruktive Shitstorms, in »Empörungs-Shitstorms« und »Vernichtungs-Shitstorms«.

»Wo liegen die Unterschiede?«, hake ich nach.

»Ein Empörungs-Shitstorm kann tatsächlich ein sinnvolles, gesellschaftliches Korrektiv sein«, so Lobo. »Wenn sich Leute zum Beispiel über das Fehlverhalten eines Unternehmens aufregen und im Zuge dessen ein paar Kommentator:innen verbal über die Stränge schlagen, behält der Kern des Shitstorms eine grundsätzlich konstruktive Energie. Diese Energie kann durchaus Veränderungen provozieren, in Form von geballtem, öffentlichem Druck. Wir haben schon eine Vielzahl von Unternehmen erlebt, die zum Beispiel irgendwann gemerkt haben, oh, wir müssen unsere rassistische oder frauenfeindliche Werbekampagne zurückziehen, weil zu viele Leute empört sind.« Das französische Modehaus Balenciaga musste beispielsweise im Winter 2022 eine Kampagne zurückziehen, weil es zu Recht Empörung hagelte. Auslöser war ein Fotomotiv, auf dem ein Kind einen sexualisierten Teddybär in der Hand hält. Der »Empörungs-Shitstorm« fegte tagelang durch alle analogen und digitalen Medien.

Einfacher gesagt: Social Media taugt als Werkzeug zu mehr Gerechtigkeit und Sensibilisierung, auch wenn es mal rauer wird. Da bin ich dabei. Debatte und Kritik kann und muss mitunter hart sein. Aber was ich erlebte und erlebe, nennt Sascha Lobo einen »Vernichtungs-Shitstorm«: Hier ging und geht es einzig und allein darum, mich niederzumachen.

»Dann ist es auch egal, ob du dich entschuldigst, dann ist auch egal, ob jemand gelernt hat oder einsichtig ist, das ist völlig wurscht, dann geht es einfach um Folgendes: ›Lasst uns diese Person vernichten!‹« Manchmal, erklärt Lobo weiter, seien die Grenzen zwischen einem Empörungs-Shitstorm und einem Vernichtungs-Shitstorm fließend: Eine eigentlich gute Sache verwandele sich durch immer bösartigere Beleidigungen in echte Hassrede, in pures Gift. Das »soziale Korrektiv« ertrinkt dann in einem Strudel aus wüsten Beleidigungen. Das Wetter im Internet schlägt also schnell um. Wo genau ein Shitstorm anfängt und endet, ist im Einzelfall zu beobachten. Vielleicht kann das digitale Unwetter, ähnlich wie das meteorologische, zwar mittlerweile analysiert und verstanden, aber nicht immer korrekt vorhergesagt werden.

Was mich zur Feministin machte


Nachdem ich meinen Post auf Facebook abgesetzt hatte, konnte ich in Echtzeit beobachten, wie sich der Sturm zusammenbraute. Am Abend war die Hölle los, tags darauf ging es weiter. Die Printmedien nahmen sich des Themas an. In sämtlichen Medien las ich über den Vorfall, von der taz bis zur B. Z. wurde die Geschichte aufgegriffen. Es gäbe einen neuen »#aufschrei«, schrieb die taz und bezog sich damit auf den Hashtag, den die Journalistin Anne Wizorek 2013 im Zusammenhang mit mehreren Erfahrungsberichten von Frauen etablierte, die Sexismus im Politikbetrieb erlebt hatten.4

Ausgelöst wurde die öffentliche Diskussion von übergriffigen Kommentaren, die der damalige FDP-Spitzenkandidat Rainer Brüderle gegenüber der Journalistin Laura Himmelreich geäußert haben soll, so soll er gesagt haben, sie könne »ein Dirndl ausfüllen«. Himmelreich hatte die Geschichte am 24. Januar 2013 unter dem Titel »Der Herrenwitz« im Stern veröffentlicht. Die Debatte entlud sich kontrovers in allen Talkshows, in den sozialen Medien und an Stammtischen. Bundespräsident Joachim Gauck bezeichnete die Berichterstattung über Alltagssexismus als »Tugendfuror«5, musste jedoch später zurückrudern. Bei Twitter wurde es richtig hässlich: »Warum brüllen #Aufschrei-Tanten nur ›Mehr Frauen in Aufsichtsräte‹ und nie ›Mehr Frauen zur...