Israel und wir - Geschichte einer besonderen Beziehung

Israel und wir - Geschichte einer besonderen Beziehung

von: Werner Sonne

Verlag C.H.Beck, 2024

ISBN: 9783406820144 , 213 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 17,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Israel und wir - Geschichte einer besonderen Beziehung


 

Staatsräson konkret


Die Berliner Politik nach dem 7. Oktober

Als Olaf Scholz am 17. Oktober, zehn Tage nach dem Beginn des Krieges, in Israel war, heulten gleich viermal die Sirenen – Raketenalarm! Zweimal musste der Kanzler allein in der deutschen Botschaft in den Schutzbunker. Zuletzt erwischte es die deutsche Delegation unmittelbar vor dem Abflug mit dem Regierungsflieger der deutschen Luftwaffe. «Alles liegen lassen, alles raus», hieß es plötzlich. Die rund 50 Begleiter, darunter Journalisten und Journalistinnen, wurden aufgefordert, die auf dem Vorfeld des Ben-Gurion-Flughafens geparkte Maschine sofort zu verlassen, sie legten sich flach auf den Asphalt. Der Kanzler wurde eilends in das nahegelegene Flughafengebäude gebracht. Es knallte, das israelische Abwehrsystem Iron Dome schoss über Tel Aviv die anfliegenden Raketen ab.

Olaf Scholz war der erste ausländische Regierungschef, der nach dem Hamas-Überfall nach Israel kam. Auch US-Präsident Joe Biden war in der Region. Beide hatten vereinbart, dass sie nicht am gleichen Tag in Israel sein sollten. Biden kam dann am nächsten Tag. Überhaupt, das zeigte sich früh, waren es diese beiden Regierungen, die während des gesamten Konflikts am engsten kooperierten und ihre Positionen abstimmten, zum Teil praktisch wortgleich in den öffentlichen Stellungnahmen. Der Kanzler wiederholte die Botschaft, die man in diesen Tagen auch in Berlin immer wieder hörte: «Dies ist ein Besuch bei Freunden in schwierigen Zeiten. Die Sicherheit Israels und seiner Bürger ist Staatsräson.» Der politisch entscheidende Satz, auch das sollte sich immer wieder zeigen, war dieser: «Israel hat das Recht, sich gegen diesen Terrorismus zu wehren.»

Die Linie der Regierung


Auf der Suche nach einem Inhalt für das so weitgehende Versprechen der Staatsräson hatte das Kanzleramt drei Punkte festgelegt, die zugleich auch eine durchaus konkrete Antwort sind auf die immer wieder gestellte Frage, was das Versprechen eigentlich bedeutet, wenn es darauf ankommt:

  1. Die moralische Unterstützung: öffentlich zu zeigen, dass man angesichts des ungeheuren Traumas, das der brutale und so unerwartete Hamas-Überfall ausgelöst hatte, an der Seite der Überfallenen stehe. Der sonst mit drastischen Worten nicht zimperliche Gastgeber Netanjahu übertrieb nicht, als er die weit verbreitete Befindlichkeit in der israelischen Bevölkerung beschrieb, indem er sagte, der Terrorangriff sei das «schlimmste Verbrechen gegen Juden seit dem Holocaust».

    Die zahlreichen Besucher aus dem Berliner Kabinett vor Ort versicherten die deutsche Solidarität wieder und wieder. Kein Land schickte so viele Repräsentanten, auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier reiste an und besuchte eine von der Hamas zerstörte Ortschaft gleich an der Grenze zu Gaza. «Israel hat jedes Recht, sich selbst zu verteidigen und seine Existenz zu sichern», so Steinmeier in Übereinstimmung mit der deutschen Regierungslinie.

  2. Die Diplomatie: Berlin wollte sich international darum kümmern, Israel für seine Aktionen in Gaza den Rücken frei zu halten. Es ging darum, so formulierte man das in der Umgebung von Olaf Scholz, der Netanjahu-Regierung «Raum und Zeit» zu verschaffen. Dafür habe man auch «teuer bezahlt» und die Abkehr von einstigen Freunden in Kauf genommen. Israels Bedürfnisse hatten Priorität. «Das geht nicht umsonst», so die bittere Erkenntnis. Hier nahm man auch ein Zerwürfnis innerhalb der Europäischen Union in Kauf, vor allem mit Deutschlands wichtigstem Partner Frankreich. Immer wieder wehrte sich die Berliner Politik dagegen, Israel zu einem andauernden Waffenstillstand aufzufordern, was der französische Präsident Macron wollte. Dabei ging es um feine semantische Unterschiede. Ging es um «Pause» oder «Pausen»? Humanitäre Pausen ja, so die Berliner Position, Dauerpause jedoch nicht. Das konnte die Bundesregierung in Brüssel durchsetzen. Dieser politische Kraftakt sei allerdings, so ein Beteiligter, «verdammt schwierig» gewesen. «Frankreich und wir gehen da getrennte Wege.» Das sei nicht angenehm gewesen für den Kanzler, «aber er stand».

  3. Die ganz praktische, auch militärische Hilfe. Hier hatte Scholz eine Formel im Gepäck, die noch eine wichtige Bedeutung bekommen sollte: «Wenn ihr was braucht, meldet euch!»

Die Bundesregierung richtete eine Arbeitsgruppe ein. Quer durch die Ressorts sollte geprüft werden, was man konkret machen konnte. Dabei rückte schnell der Bereich der militärischen Unterstützung in den Vordergrund. Angesichts der weiterhin mit erheblichen Ausstattungslücken kämpfenden Bundeswehr und vor allem der andauernden Unterstützung der Ukraine mit Waffen und Munition in großen Mengen war diese Aufforderung des Kanzlers eine, die nicht nur einen symbolischen Wert hatte.

Denn bald meldeten die Israelis tatsächlich einen Bedarf an. In Berlin wurde dem schnell stattgegeben: 155-Millimeter-Geschosse für die Artillerie und 120-Millimeter Granaten für die Merkava-Panzer. Hier zahlte sich aus, dass Israels Artillerie die im Westen standardisierten Granatendurchmesser nutzt und die Merkava-Panzer die in Deutschland entwickelte Glattrohrkanone haben.

Es seien Mengen im «fünfstelligen Bereich» geliefert worden, hieß es dazu im Bundesverteidigungsministerium, im Vergleich zum gewaltigen Lieferumfang an die Ukraine – Deutschland ist im Rüstungsbereich der zweitgrößte Lieferant nach den USA – keine riesige Belastung, aber dennoch ein handfester Beitrag für Israels Verteidigung. Diese Menge, so ein hochrangiger Bundeswehrgeneral, habe ihm «nicht den Schlaf geraubt».

Dazu kamen 3000 tragbare Panzerabwehrwaffen, 500.000 Schuss Munition für Maschinengewehre und andere Schusswaffen, Zünder und Treibladungen. Die Bundesregierung ging damit an die Öffentlichkeit. Insgesamt habe sie 2023 Rüstungslieferungen im Wert von 326,5 Millionen Euro für Israel genehmigt – zehnmal so viel wie im Vorjahr. Und es wurden auch 10.000 Schutzhelme geliefert, die von den israelischen Streitkräften besonders wegen der Leichtigkeit des Materials geschätzt werden. Sofort zugesagt wurden auch zwei Heron-TP-Drohnen, die die Bundeswehr von Israel geleast hatte und die vor Ort einsatzbereit waren.

Besonders hilfreich war auch die schnelle Lieferung von Blutplasma durch das Deutsche Rote Kreuz. Diese Hilfe ist keineswegs nur eine Fußnote, die hinter der militärischen Unterstützung verblasst. Der DRK-Blutspendedienst West hat hier eine auch im weltweiten Maßstab besondere Technik entwickelt. Aus den rund 700.000 Blutspenden pro Jahr kann – ohne dass es zu Verlusten für die eigentliche Versorgung kommt – zusätzlich Trockenplasma hergestellt werden. Dieses Spezial-Präparat hat den Vorteil, dass es lange haltbar ist und keine Kühlkette braucht. Es wird bei größeren Verletzungen eingesetzt und erhöht signifikant die Überlebensquote der Patienten – was gerade für schwer verletzte Soldaten von besonderer Bedeutung ist –, und davon gab es bei den israelischen Streitkräften viele. Alle diese Lieferungen wurden im Übrigen nicht geschenkt, sondern von Israel bezahlt.

Herausforderung im Roten Meer


Von Anfang an wurde die Bundesregierung von der Sorge umgetrieben, der Konflikt könne sich zu einem Flächenbrand entwickeln, der die ganze Region erfassen würde. Schließlich wurde bald nicht nur im Gaza-Streifen geschossen, sondern auch an der Nordgrenze Israels. Anfangs überließ die Hisbollah diese militärischen Nadelstiche noch den Palästinensern, die im Libanon seit Jahrzehnten ein weitgehend rechtloses Dasein erdulden müssen. Doch die Schießereien entlang der Grenze nahmen auf beiden Seiten zu und wurden bald zu einem beinahe täglichen Schlagabtausch, der mit zunehmender Härte geführt wurde. Große israelische Ortschaften wurden evakuiert, Tausende mussten ihre Häuser verlassen. So kann es nicht weitergehen, war die naheliegende Schlussfolgerung, die man auch in Berlin aus dieser Lage zog. Die Bundesregierung setzte den BND ein, der mit der Hisbollah Kontakt aufnahm und die dringliche Botschaft überbrachte, eine weitere Eskalation zu unterlassen. Außenministerin Baerbock griff selber zum Telefon und beschwor ihren iranischen Kollegen, Teheran solle nicht selber aktiv in den Krieg eingreifen und dafür sorgen, dass die Kampfhandlungen begrenzt blieben. Mit Erleichterung nahm man in Berlin zur Kenntnis, dass trotz aller...